Die Toechter der Kaelte
leer war. Verdammt noch mal. Sie stand auf und wollte zum Münz- und Kartentelefon auf dem Flur, lief dabei aber fast zwei Männer um. Verwundert sah sie, daß es Patrik Hedström war, in Begleitung seines rothaarigen Kollegen, der grimmig über ihre Schulter ins Wartezimmer blickte.
»Hallo, was macht ihr denn hier?« fragte sie, aber dann traf sie der Gedanke mit voller Wucht. »Habt ihr was gefunden? Etwas über Sara? Ihr habt was, stimmt’s? Was ist es? Was …?« Eifrig und angstvoll zugleich blickte sie vom einen zum anderen, bekam aber keine Antwort.
Schließlich sagte Patrik: »Was Sara angeht, haben wir dir im Moment noch nichts Konkretes mitzuteilen.«
»Aber warum …?« Sie war so verwirrt, daß sie den Satz nicht zu Ende brachte.
Nach kurzem Schweigen fuhr Patrik fort: »Wir sind hier, weil wir mit deiner Mutter sprechen müssen.«
Verwundert trat Charlotte beiseite, als die Männer ihr bedeuteten, sie möge sie durchlassen. Wie durch einen Schleier beobachtete sie, daß die anderen im Wartezimmer das Schauspiel gespannt verfolgten. Die Polizisten bauten sich breitbeinig vor Lilian auf, die mit verschränkten Armen dastand, eine Augenbraue hochzog und die beiden musterte.
»Wir möchten Sie bitten mitzukommen.«
»Das kann ich nicht, das müssen Sie ja wohl verstehen«, gab Lilian kampflustig zurück. »Mein Mann liegt hier und ringt mit dem Tod, ich kann ihn nicht alleine lassen.« Sie stampfte mit dem Fuß auf, um ihren Standpunkt zu unterstreichen, aber das schien keinen der beiden zu beeindrucken.
»Stig wird überleben, und Sie haben leider keine Wahl. Ich werde Sie nur einmal freundlich bitten«, entgegnete Patrik.
Charlotte traute ihren Ohren nicht. Es mußte sich um ein gigantisches Mißverständnis handeln. Wenn nur Niclas hiergewesen wäre, dann hätte er sie alle im Handumdrehen beruhigen und die Sache aufklären können. Sie selbst fühlte sich völlig handlungsunfähig. Die ganze Situation war so absurd.
»Worum geht es?« fauchte Lilian. Sie wiederholte laut, was Charlotte gerade gedacht hatte: »Hier muß irgendein Mißverständnis vorliegen.«
»Wir haben heute vormittag Lennart exhumiert. Die Gerichtsmediziner entnehmen seiner Leiche gerade Proben, und auch die von Stig werden zur Zeit analysiert. Wir haben außerdem eine weitere Hausdurchsuchung bei Ihnen durchgeführt und dabei …«, Patrik warf einen Blick auf Charlotte, wandte sich dann aber wieder an Lilian, »… noch andere Dinge gefunden. Wir können das hier vor Ihrer Tochter besprechen, wenn Sie wollen, oder wir fahren aufs Revier.« Seine Stimme war völlig emotionslos, aber in seinen Augen lag eine Kälte, die Charlotte ihm nie zugetraut hätte.
Einen Moment traf Lilians Blick die Tochter. Die verstand kein Wort von dem, was Patrik gerade gesagt hatte. Ein kurzes Aufblitzen in Lilians Augen steigerte noch ihre Verwirrung, und auf einmal spürte sie ein kaltes Schaudern. Irgend etwas lief hier definitiv falsch.
»Mein Vater hatte doch Guillain-Barre. Er ist an einer Nervenkrankheit gestorben«, sagte sie zu Patrik, zugleich erklärend und fragend.
Er gab keine Antwort. Sie würde bald mehr erfahren, als ihr jemals liebgewesen wäre.
Lilian wandte den Blick von der Tochter ab, schien einen Entschluß zu fassen und sagte ruhig zu Patrik: »Ich komme mit.«
Hilflos blieb Charlotte zurück. Sie war nicht sicher, ob sie hierbleiben oder ihnen folgen sollte, doch die anderen begaben sich bereits zum Ausgang.
Hinseberg 1962
Es war der einzige Besuch, den sie Agnes abzustatten gedachte. Für sie war diese Frau nicht mehr ihre Mutter. Nur noch Agnes.
Sie war gerade achtzehn geworden, und ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ sie ihre letzten Pflegeeltern. Sie fehlten ihr nicht, und sie fehlte ihnen nicht.
All die Jahre waren Briefe in dichter Folge eingetroffen. Dicke Briefe, die nach Agnes dufteten. Sie hatte keinen einzigen geöffnet. Aber sie hatte sie auch nicht weggeworfen. Sie lagen in einem Koffer und warteten darauf vielleicht eines Tages gelesen zu werden.
Das war auch das erste, was Agnes fragte: »Darling, hast du meine Briefe gelesen?«
Mary sah Agnes an, ohne zu antworten. Sie hatte sie vier Jahre nicht gesehen und mußte sich ihre Gesichtszüge erneut einprägen, bevor sie etwas sagen konnte. Es wunderte sie, wie wenig der Gefängnisaufenthalt Agnes verändert hatte. Die Kleidung hatte sie nicht beeinflussen können, die eleganten Kostüme und Kleider gehörten der Vergangenheit an,
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