Die Toechter der Kaelte
Grund hatte das Kind schon früh entschieden, daß es eine völlig sinnlose Beschäftigung sei, im wachen Zustand im Wagen zu liegen, und so protestierte es lauthals. Ihre Schreie ließen Ericas Herz heftiger schlagen, und vor Panik zeigten sich auf ihrer Stirn kleine Schweißperlen. Ein Urinstinkt sagte ihr, sie müsse sofort stehenbleiben, Maja hochnehmen und sie vor den Wölfen retten, aber sie gab diesem Gefühl nicht nach. Es war nur ein kurzes Stück bis zum Haus von Charlottes Mutter, und sie würde bald da sein.
Es war merkwürdig, daß ein einziges Ereignis die Sicht, die man auf die Welt hatte, so vollständig ändern konnte. Erica war immer der Meinung gewesen, daß die Häuser an der Bucht unterhalb von Sälviks Campingplatz, von denen man auf das Meer und die Inseln blickte, die Straße wie ein friedvolles, glänzendes Perlenband säumten. Jetzt war ihr, als läge eine düstere Stimmung auf den Dächern, vor allem auf dem der Familie Florin. Sie zögerte aufs neue, aber nun war sie so dicht herangekommen, daß es idiotisch erschien, einfach kehrtzumachen. Dann mußte man sie eben wegschicken, wenn man meinte, sie käme ungelegen. In der Not zeigt sich, wer ein Freund ist, und sie wollte nicht zu der Kategorie Leute zählen, die sich aus übertriebener Fürsorge oder vielleicht sogar Feigheit von Freunden, die es schwer hatten, zurückzogen.
Schnaufend schob sie den Wagen die Steigung hinauf. Das Haus der Florins lag ein Stück den Berg hoch, und sie blieb eine Sekunde auf der Einfahrt stehen, um Luft zu holen. Majas Geschrei hatte eine Dezibelstärke erreicht, die auf einem Arbeitsplatz als unzulässig gelten würde, also beeilte sie sich, den Wagen abzustellen und das Kind hochzunehmen.
Ein paar lange Augenblicke stand sie mit pochendem Herzen vor der Tür, bevor sie die bereits erhobene Hand gegen das Holz fallen ließ. Es gab eine Klingel, aber das schrille Signal ins Haus zu senden erschien ihr auf irgendeine Weise zu aufdringlich. Eine lange Zeit verging in Stille, und Erica wollte sich gerade umdrehen, um zu gehen, als sie im Haus Schritte hörte. Niclas öffnete die Tür.
»Hallo«, sagte sie leise.
»Hallo«, erwiderte Niclas, und die roten Trauerränder um seine Augen leuchteten in dem bleichen Gesicht. Erica fand, daß er wie ein Toter aussah, der noch immer auf Erden wanderte.
»Verzeih, wenn ich störe, das war nicht meine Absicht, ich dachte nur …« Sie suchte nach Worten, fand aber keine. Das Schweigen zwischen ihnen war kompakt. Niclas hielt den Blick auf seine Füße gerichtet, und zum zweiten Mal nach ihrem Klopfen war Erica dabei, auf dem Absatz kehrtzumachen und wieder nach Hause zu fliehen.
»Willst du reinkommen?« fragte er.
»Glaubst du denn, das geht?« erwiderte Erica. »Ich meine, glaubst du, es kann irgendeinen …«, wieder suchte sie nach den richtigen Worten, »… Nutzen haben?«
»Sie hat starke Beruhigungsmittel bekommen und ist nicht richtig …« Er beendete den Satz nicht. »Aber sie hat mehrmals gesagt, daß sie dich hätte anrufen sollen, also wäre es gut, wenn du sie in diesem Punkt beruhigen könntest.«
Daß Charlotte sich nach dem, was passiert war, Sorgen machte, weil sie bei Erica nicht abgesagt hatte, gab ihr zu erkennen, wie verwirrt Charlotte sein mußte. Aber als Erica hinter Niclas ins Wohnzimmer trat, konnte sie dennoch einen Schreckenslaut nicht unterdrücken. Wenn Niclas wie ein Untoter aussah, dann sah Charlotte wie jemand aus, der schon ein Weilchen unter der Erde gelegen hatte. Nichts von der energischen, herzlichen, lebendigen Charlotte war übrig. Dort auf dem Sofa schien nur eine leere Hülle zu liegen. Ihr dunkles, gelocktes Haar, das sonst das Gesicht umspielte, hing in verschwitzten Strähnen herunter. Das Übergewicht, das ihrer Mutter ständig Anlaß zu Attacken gab, war in Ericas Augen nur kleidsam gewesen und hatte sie wie eine der üppigen Dalarmädchen von Anders Zorn aussehen lassen, aber wie sie jetzt dort zusammengekrümmt unter der Decke lag, hatten Haut und Körper ein teigiges, ungesundes Aussehen angenommen.
Sie schlief nicht. Aber ihre Augen starrten leblos ins Leere, und sie zitterte leicht wie im Fieber. Noch immer im Mantel, stürzte Erica instinktiv zu ihr und ließ sich vor dem Sofa auf die Knie fallen. Maja hatte sie auf den Boden gelegt, und das Kind schien die Stimmung zu spüren und gab ausnahmsweise keinen Ton von sich.
»O Charlotte, es tut mir so leid.« Erica weinte und nahm Charlottes Gesicht in ihre
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