Die Toechter der Kaelte
Hände, doch nichts bewegte sich in dem leeren Blick.
»Ist sie die ganze Zeit so gewesen?« fragte Erica und wandte sich zu Niclas um. Er stand noch immer mitten im Raum, leicht schwankend. Endlich nickte er und strich sich müde über die Augen. »Das kommt von den Tabletten. Aber sobald wir sie weglassen, schreit sie ununterbrochen. Wie ein verletztes Tier. Ich ertrage dieses Schreien einfach nicht.«
Erica drehte sich wieder zu Charlotte zurück und strich ihr sanft übers Haar. Sie schien seit Tagen nicht gebadet oder die Kleider gewechselt zu haben, und ein leichter Schweiß- und Angstgeruch stieg von ihrem Körper auf. Der Mund bewegte sich, als wollte sie etwas sagen, aber zunächst ließ sich ihr Gemurmel nicht verstehen. Nachdem sie es eine Weile probiert hatte, sagte Charlotte leise mit rauher Stimme: »Konnte nicht kommen. Hätte anrufen sollen.«
Erica schüttelte heftig den Kopf und strich der Freundin nur immer wieder übers Haar. »Das macht nichts. Denk nicht daran.«
»Sara nicht mehr da«, sagte Charlotte und fokussierte erstmals Erica. Es war, als würde ihr Blick die Netzhaut durchbrennen, so viel Schmerz lag darin.
»Ja, Charlotte, Sara ist nicht mehr da. Aber Albin ist hier und Niclas. Ihr müßt euch jetzt gegenseitig stützen.« Sie hörte selbst, daß das, was aus ihrem Mund kam, Platitüden waren, aber vielleicht konnte die Schlichtheit einer solchen Phrase Charlotte erreichen. Doch das einzige Ergebnis war, daß Charlotte leicht den Mund verzog und mit bitterer Stimme tonlos sagte: »Gegenseitig stützen.« Ihr Lächeln wirkte wie eine Grimasse, und es war, als läge in Charlottes bitterem Tonfall, in dem sie Ericas Worte wiederholte, eine versteckte Botschaft. Doch vielleicht bildete Erica sich das nur ein. Die starken Beruhigungsmittel konnten seltsame Wirkungen haben.
Ein Geräusch hinter ihnen ließ Erica herumfahren. Lilian stand in der Türöffnung und sah aus, als würde sie vor Empörung ersticken. Sie richtete ihren flammenden Blick auf Niclas.
»Sagten wir nicht, daß Charlotte keinen Besuch empfangen soll?«
Die Situation war für Erica außerordentlich unbehaglich, aber Niclas schien vom Ton seiner Schwiegermutter gänzlich unberührt. Da er keine Antwort gab, wandte sich Lilian direkt an die auf dem Boden hockende Erica.
»Charlotte ist viel zu schwach, um hier eine Menge Gerenne um sich zu haben. Man hätte ja gedacht, die Leute begreifen so was!« Sie machte eine Bewegung, als wollte sie auf Erica zugehen und sie wie eine Fliege von ihrer Tochter verjagen, aber zum ersten Mal zeigte sich in Charlottes Augen ein Fünkchen Leben. Sie hob den Kopf vom Kissen und sah ihrer Mutter direkt in die Augen: »Ich will, daß Erica hierbleibt.«
Die Aufsässigkeit der Tochter brachte Lilian noch mehr in Wut, aber mit deutlicher Anstrengung schluckte sie das, was ihr auf der Zunge lag, hinunter und stürmte in die Küche. Der Lärm ließ Maja aus ihrem ungewöhnlich stillen Zustand erwachen, und ihr gellendes Schreien durchschnitt den Raum. Mühsam setzte sich Charlotte auf dem Sofa auf. Niclas erwachte ebenfalls aus seiner Betäubung und machte einen raschen Schritt auf sie zu, um ihr zu helfen. Sie wehrte ihn brüsk ab und reichte ihren Arm statt dessen Erica.
»Bist du sicher, daß du aufsein kannst? Willst du dich nicht noch eine Weile ausruhen?« fragte Erica ängstlich, aber Charlotte schüttelte nur den Kopf. Das Reden fiel ihr schwer, aber mit sichtlicher Anstrengung brachte sie schließlich hervor: »… lange genug gelegen.« Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie flüsterte: »Kein Traum?«
»Nein, kein Traum«, erwiderte Erica. Dann wußte sie nicht, was sie weiter sagen sollte. Sie setzte sich neben Charlotte aufs Sofa, nahm Maja auf den Schoß und legte der Freundin ihren Arm um die Schulter. Ihr T-Shirt fühlte sich feucht an, und Erica überlegte, ob sie es wagen durfte, Niclas vorzuschlagen, er solle Charlotte helfen, zu duschen und sich umzuziehen.
»Willst du noch eine Tablette?« fragte Niclas, aber traute sich nicht einmal, seine Frau anzusehen, nachdem er abgewiesen worden war.
»Keine Tabletten mehr«, antwortete Charlotte und schüttelte erneut heftig den Kopf. »Brauche einen klaren Kopf.«
»Willst du duschen?« fragte Erica. »Niclas oder deine Mutter helfen dir bestimmt gern.«
»Kannst du mir nicht helfen?« bat Charlotte, deren Stimme mit jedem Satz fester klang.
Erica zögerte eine Sekunde, erwiderte dann aber:
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