Die Toechter der Kaelte
war, zog Mellberg den Brief erneut hervor und las ihn zumindest schon zum zehnten Mal.
Morgan machte ein wenig Gymnastik mit Schultern und Fingern, bevor er sich vor den Computerschirm setzte. Er wußte, daß er manchmal so tief in dieser Welt versinken konnte, daß er stundenlang in derselben Haltung sitzen blieb. Er prüfte sorgsam, ob er alles Nötige vor sich hatte, damit er erst aufzustehen brauchte, wenn es absolut notwendig war. Ja, alles war an seinem Platz. Eine große Flasche Cola, ein großes Daim und ein großer Riegel Snickers. Damit würde er eine ganze Weile klarkommen.
Der Ordner, den er von Fredrik bekommen hatte, lag schwer auf seinem Schoß. Er enthielt alles, was er wissen mußte. Die ganze Phantasiewelt, die zu erschaffen er selbst nicht imstande war, lag zwischen den harten Deckeln des Ordners versammelt und würde nun bald in Einsen und Nullen verwandelt werden. Das war eine Sache, die er beherrschte. Gefühle, Phantasie, Träume und Märchen hatten aufgrund einer Laune der Natur in seinem Gehirn nie Platz gefunden, statt dessen beherrschte er alles, was logisch und vorhersehbar war, die Einsen und Nullen, die kleinen elektrischen Impulse des Computers, die sich auf dem Bildschirm in Sichtbares verwandelten.
Manchmal fragte er sich, wie das wohl sein mochte, wenn man wie Fredrik da saß und andere Welten aus seinem Gehirn hervorholte, etwas erschaffen und sich in die Gefühle anderer Menschen hineinversetzen konnte. Meist führten diese Überlegungen nur zu einem Achselzucken, und er wies die Sache als unwichtig von sich. Doch während der schweren Depressionen, die ihn zuweilen überfielen, konnte er die ganze Schwere seines Handicaps spüren und darüber verzweifeln, daß er so ganz anders als alle anderen geschaffen war.
Zugleich war es ein Trost, zu wissen, daß er nicht der einzige war. Er besuchte oft die Homepages für Leute wie ihn und hatte eine ganze Menge Mails mit einigen der anderen gewechselt. Einmal war er sogar zu einem Treffen nach Göteborg gefahren, aber das würde er nicht wiederholen. Daß sie so grundverschieden von den übrigen Menschen waren, hatte zur Folge, daß es ihnen schwerfiel, miteinander zu kommunizieren, und das Treffen war von Anfang bis Ende nichts anderes als ein Fiasko gewesen.
Aber es war dennoch schön, zu erleben, daß es mehr von seiner Sorte gab. Die Gewißheit genügte. Eigentlich verspürte er keine Sehnsucht nach Gemeinschaft, die normalen Menschen so wichtig erschien. Am wohlsten fühlte er sich, wenn er allein in seinem kleinen Häuschen weilte, nur in Gesellschaft der Computer. Hin und wieder tolerierte er die Anwesenheit seiner Eltern, doch sie waren auch die einzigen. Sie zu treffen verunsicherte ihn nicht. Er hatte viele Jahre Zeit gehabt, sie zu studieren, ihre komplizierte, nicht in Worten geäußerte Sprache zu deuten, den Gesichtsausdruck’, die Körpersprache und Tausende anderer kleiner Signale, für deren Handhabung sein Gehirn ganz einfach nicht konstruiert zu sein schien. Sie hatten auch gelernt, sich nach ihm zu richten, auf eine Weise zu sprechen, die er verstehen konnte, zumindest einigermaßen.
Vor ihm leuchtete der Bildschirm weiß und leer. Diesen Augenblick mochte er. Normale Menschen würden in einem solchen Moment vielleicht sagen, daß sie das liebten, aber er war sich nicht ganz sicher, was das Wort lieben bedeutete. Aber vielleicht war es genau das, was er jetzt empfand. Dieses innige Gefühl von Zufriedenheit, dieses Gefühl, hier zu Hause und normal zu sein.
Morgan begann mit flinken Fingern auf der Tastatur zu schreiben. Zwischendurch schaute er in den Ordner auf seinem Schoß, doch meist haftete sein Blick fest auf dem Bildschirm. Er hörte nie auf, sich zu wundern, daß die Probleme, die er mit der Koordination zwischen seinem Körper und seinen Fingern hatte, wie durch ein Wunder verschwanden, wenn er arbeitete. Plötzlich war seine Hand genauso geschickt und sicher, wie sie es immer sein sollte. Motorische Probleme nannte man die Schwierigkeiten, die er dabei hatte, seine Finger dorthin zu bekommen, wohin er sie haben wollte, die Schuhe zuzubinden oder das Hemd zuzuknöpfen. Er verstand genau, was ihn von den anderen unterschied, aber konnte nichts tun, um das zu ändern. Im übrigen fand er es falsch, die anderen als normal und Leute wie ihn als anormal zu bezeichnen. Eigentlich waren es nur die gesellschaftlichen Normen, die festlegten, daß an ihm etwas nicht stimmte. Er war schließlich nur - ja,
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