Die Toechter der Kaelte
aufknöpfte. Er tat es verzehrend langsam. Sie wollte den Stoff packen und die Bluse aufreißen, aber sie wußte, damit würde sie das Bild von sich zerstören, das sie über Wochen aufgebaut hatte. Noch früh genug würde sie diesen Wesenszug offenbaren, aber dann konnte er die Ehre für sich verbuchen, also daß er sie hervorgelockt hatte. Männer waren so durchschaubar.
Als das letzte Kleidungsstück fiel, zog sie befangen die Decke über sich. Anders strich ihr übers Haar und schaute ihr fragend in die Augen, wartete auf ihr bestätigendes Nicken, bevor auch er unter die Decke kroch.
»Kannst du nicht die Kerze ausblasen?« fragte sie mit dünner, ängstlicher Stimme.
»Ja, natürlich, klar«, sagte er, verlegen, weil es ihm nicht selbst eingefallen war, daß sie den Schutz der Dunkelheit vorziehen würde. Er streckte den Arm zum Nachtisch aus und zerdrückte die Flamme zwischen den Fingern. Im Dunkeln spürte sie, wie er sich ihr zuwandte und sie unerträglich langsam zu erforschen begann.
Genau im richtigen Augenblick ließ sie ein Wimmern wegen des angeblichen Schmerzes hören und hoffte, daß er das Ausbleiben von Blut nicht als verräterisches Zeichen deutete. Doch seine zärtliche Fürsorge danach zeigte, daß er keinen Verdacht geschöpft hatte, und sie war zufrieden mit ihrem Einsatz. Da sie ihre natürlichen Instinkte unterdrücken mußte, war es etwas weniger aufregend gewesen als erwartet, aber das Potential war vorhanden, und schon bald würde sie sich auf eine Weise entfalten, die ihm eine angenehme Überraschung bereiten würde.
Auf seinem Arm liegend, überlegte sie, ob sie vorsichtig ein zweites Mal initiieren sollte, beschloß dann aber, lieber noch etwas zu warten. Bis auf weiteres mußte sie sich damit begnügen, ihre Rolle geschickt gespielt und ihn dahin bekommen zu haben, wohin sie ihn haben wollte. Von nun an galt es, maximalen Nutzen aus den Wochen zu ziehen, die sie in ihn investiert hatte. Wenn sie ihre Karten richtig ausspielte, konnte sie für den Winter einen richtig angenehmen Zeitvertreib erwarten.
Monica schob den Wagen durch die Regalreihen und stellte zurückgegebene Bücher in die Fächer. Ihr Leben lang hatte sie Bücher geliebt, und nachdem sie im ersten Jahr, nachdem Kaj die Firma verkauft hatte und sie zu Hause geblieben war, fast vor Langeweile gestorben war, hatte sie sofort zugegriffen, als sie hörte, die Bibliothek brauche eine Teilzeitkraft. Kaj fand, sie sei verrückt, weil sie arbeitete, obwohl sie es nicht nötig hatte, und sie vermutete, daß er darin einen Prestigeverlust sah, aber ihr gefiel es dort viel zu gut, als daß sie sich um so etwas kümmerte. An ihrem Arbeitsplatz herrschte ein wunderbarer Zusammenhalt, und sie brauchte die Gemeinschaft. Kaj war von Jahr zu Jahr griesgrämiger und reizbarer geworden, und Morgan kam ohne sie zurecht. Irgendwelche Enkel würde es auch nicht geben, das hielt sie jedenfalls für unwahrscheinlich. Sogar diese Freude war ihr verwehrt. Sie konnte nicht umhin, einen verzehrenden Neid zu verspüren, wenn die anderen auf der Arbeit von ihren Enkelkindern sprachen. Das Leuchten in ihren Augen führte dazu, daß sich in Monica alles vor Mißgunst verkrampfte. Nicht, daß sie Morgan nicht liebte. Das tat sie durchaus. Obwohl er es ihnen nicht leicht gemacht hatte, ihn zu lieben. Und sie glaubte, daß er sie ebenfalls liebte. Er wußte nur nicht, wie er es vermitteln sollte, er wußte vielleicht noch nicht einmal, daß das, was er empfand, genau das war, was man Liebe nannte.
Es hatte viele Jahre gedauert, bevor sie verstanden, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Oder besser gesagt, sie wußten, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte, aber es gab nichts in ihrem Wissensbereich, das mit dem übereinstimmte, was sie bei Morgan bemerkten. Er war nicht zurückgeblieben, sondern außerordentlich intelligent für sein Alter. Sie glaubte nicht, daß er autistisch war, denn er kapselte sich nicht ab und hatte nichts gegen Berührungen - Symptome, die nach allem, was sich Monica angeeignet hatte, oft mit Autismus zusammenhingen. Morgan besuchte die Schule, lange bevor ADHS und MCD zu allgemein bekannten Begriffen wurden, und die Erwägung derartiger Diagnosen kam daher zu keiner Zeit für sie in Betracht. Dennoch begriff sie, daß etwas nicht in Ordnung war. Er benahm sich merkwürdig, und ihn zu erziehen schien unmöglich. Es war einfach, als würde er die unsichtbare Kommunikation zwischen Menschen nicht begreifen, und
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