Die Toechter der Kaelte
Haus scheren, und weil ich alles gesagt hatte, was ich hatte sagen wollen, bin ich gegangen.«
»Sie haben sie also nicht geschlagen?«
»Ich hatte wirklich gute Lust dazu, ihr das Maul zu stopfen, aber so blöd bin ich wirklich nicht!«
»Ist das ein Nein?« fragte Patrik.
»Ja, das ist ein Nein«, erwiderte Kaj verärgert. »Ich habe sie nicht angerührt, und behauptet sie was anderes, dann lügt sie. Was mich an und für sich nicht wundern würde.« Jetzt klang er total beunruhigt.
»Gibt es jemanden, der bestätigen kann, was du sagst?« fragte Gösta.
»Nein, gibt es nicht. Ich hatte gesehen, daß Niclas am Morgen weggefahren ist, und habe die Gelegenheit genutzt, als Charlotte gerade mit dem Kleinen im Wagen spazierenging.« Er wischte sich über die Stirn und strich die Hand am Hosenbein ab.
»Ja, dann steht Aussage gegen Aussage, leider«, sage Patrik. »Und an Lilian sind Spuren von Schlägen zu sehen.«
Kaj sank mit jedem von Patriks Worten mehr in sich zusammen. Die anfängliche Aggression hatte Resignation Platz gemacht. Dann richtete er sich plötzlich auf. »Aber ihr Mann. Er war doch zu Hause. Verdammt, daran habe ich gar nicht gedacht. Er ist ja wie ein Geist. Man sieht Stig überhaupt nicht mehr. Aber er muß zu Hause gewesen sein. Vielleicht hat er was gesehen oder gehört.«
Der Gedanke machte ihm neuen Mut, und Patrik sah Gösta an. Daß auch sie nicht an Stig gedacht hatten … Noch nicht einmal, was Saras Tod anging, hatten sie mit ihm gesprochen. Kaj hatte recht. Stig war während der gesamten bisherigen Ermittlung unsichtbar wie ein Geist gewesen, und sie hatten ihn total vergessen.
»Wir werden ebenfalls mit ihm reden«, sagte Patrik, »dann werden wir sehen, wie sich die Sache entwickelt. Aber wenn er nichts hinzuzufügen hat, sieht es für Sie nicht rosig aus, falls Lilian Florin Anzeige erstattet…«
Er brauchte den Gedankengang nicht näher auszuführen. Kaj verstand die eventuellen Konsequenzen auch ohne das.
Charlotte ging ziellos durch den Ort. Albin schlief ruhig in seinem Wagen, aber seit sie nach dem Absetzen der Beruhigungstabletten wieder zu sich gekommen war, hatte sie ihn kaum anzusehen vermocht. Dennoch tat sie, was sie mußte. Sie wechselte ihm die Windeln, zog ihn an und fütterte ihn, doch es geschah mechanisch, ohne jedes Gefühl. Denn was, wenn es wieder passierte? Was, wenn auch ihm etwas zustieß? Sie wußte nicht einmal, wie sie ohne Sara weiterleben sollte. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, zwang sich vorwärtszugehen, doch eigentlich wollte sie nichts lieber, als mitten auf der Straße zusammenzusinken und nie wieder aufzustehen. Aber das konnte sie sich nicht gestatten, genausowenig wie sie sich erlauben konnte, wieder in den Medikamentenrausch zurückzusinken. Denn trotz allem war da noch Albin. Selbst wenn sie ihn nicht ansehen konnte, spürte sie doch mit jeder Faser ihres Leibes, daß da noch eins ihrer Kinder am Leben war. Seinetwegen mußte sie weiteratmen. Doch das war unendlich schwer.
Und Niclas vergrub sich einfach in seiner Arbeit. Erst drei Tage war es her, daß man ihre Tochter ermordet hatte, und schon wieder saß er in seiner Praxis und behandelte Erkältungen und Wehwehchen. Vielleicht plauderte er auch fröhlich mit den Patienten, flirtete mit den Schwestern und genoß es, sich selbst in der Rolle des allmächtigen Arztes zu erleben. Charlotte wußte, daß sie ungerecht war. Sie wußte, daß Niclas genauso litt wie sie selbst. Sie wünschte nur, daß sie den Schmerz teilen könnten, statt daß jeder für sich allein einen Sinn darin suchte, eine weitere Minute zu atmen und dann noch eine und noch eine. Sie wollte es nicht, aber konnte nur Zorn und Verachtung empfinden, weil er sie jetzt, wo sie ihn am meisten brauchte, im Stich ließ. Aber vielleicht war nichts anderes zu erwarten gewesen. Wann hatte sie sich jemals bei ihm anlehnen können? Wann war er jemals etwas anderes als ein in die Höhe geschossenes Kind gewesen, das sich darauf verließ, daß Charlotte all das Graue und Triste in die Hand nahm, was den Alltag der meisten Menschen ausmachte? Den seinen aber nicht. Er sollte das Recht haben, spielend durchs Leben zu gehen. Einfach das tun zu können, was Spaß machte und wonach ihm der Sinn stand. Es hatte sie erstaunt, daß er seine medizinische Ausbildung zu Ende brachte. Sie hatte nie geglaubt, daß er so lange durchhalten würde, um all die obligatorischen Prüfungen und ermüdenden Dienste hinter sich zu bringen.
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