Die Töchter der Lagune
Sie blickte ängstlich zu ihm auf. „Wieder fort?“ „Ja.“ Er drückte beruhigend ihre Hand. „Aber du wirst mit mir kommen, Liebste.“
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Die Adria, Straße von Sizilien, Dezember 1570
Das Verderben kam wie aus heiterem Himmel über sie, und plötzlich war Elissa von schreienden und rennenden Männern umgeben. Überall um sie herum wurden Kanonen bemannt und Pulverfässer über die dicken Planken gerollt, während die Schiffsjungen eilig Fetzen eines groben, gräulichen Gewebes zwischen die Kanonenkugeln stopften. Verstört und furchtsam zugleich, blickte sich die junge Frau um und versuchte, sich einen Reim auf die Geschehnisse zu machen. Zwischen dem Besansegel und dem Hauptsegel konnte sie ein geschmeidiges, mit bunten Wimpeln beflaggtes Schiff ausmachen, das Seenot signalisierte. Warum, um alles in der Welt, waren alle so aufgeregt?, fragte sie sich und wich einem Seemann aus. Das kleine, einfach zu manövrierende Schiff lag zwischen zwei winzigen Inseln und versperrte so ihrem eigenen, größeren Schiff den Durchgang. Sie wunderte sich gerade, warum die Brigg Seenot anzeigte, wenn sie doch so nahe an der Küste einer der Inseln lag, als sie sah, wie sich eine Anzahl von kleinen Ruderbooten vom Rumpf des Schiffes abstieß. Von irgendwoher hörte sie ihre Mutter und Maria ihren Namen rufen, ignorierte es jedoch, nicht dazu in der Lage, den Blick von den Schaluppen loszureißen, die zügig näher kamen. „Werft Anker!“, donnerte der Kapitän, und nachdem die Karavelle breitseits gegangen war, begannen die Männer fieberhaft, die grauen Fetzen in die Kanonenmündungen zu stopfen. Elissa beobachtete fasziniert, wie sie die Enden des baumwollartigen Stoffes durch kleine Löcher am Kopf der Kanonen zwirbelten und Schießpulver darauf schütteten. Dann rammten sie einen gepolsterten Ladestock in die Mündungen, um das Pulver festzudrücken. Daraufhin hoben je zwei Seeleute eine der massiven Kanonenkugeln an und schoben sie vorsichtig in das lange Rohr. Sobald die Kugel den Lauf entlanggerollt war, wurde die Mündung mit einem Pfropfen verschlossen. All dies geschah so schnell, dass sie kaum genug Zeit hatte, zu begreifen, was vor sich ging. Bevor sie ihren Platz inmitten des Getümmels verlassen konnte, ließ sie die gewaltige Doppelexplosion der ersten Kanone zusammenfahren. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und hob die Hände an die Ohren, um sie zu schützen, doch es war vergebens. Die zweite und dritte Kanone feuerten unmittelbar nachdem die erste ihre tödliche Ladung ausgespuckt hatte, um die kleinen Boote, die unaufhaltsam die Distanz verringerten, zu versenken. Der unglaubliche Rückstoß schleuderte die Geschütze in die starken Taue zurück, mit denen sie gesichert waren. In Windeseile luden die Männer die Kanonen erneut, rissen einem Knaben, der einen Lunteneimer trug, glühende Kienspäne aus der Hand und brüllten ihren Kameraden am Kopf der Kanone Kommandos und Ziele zu. Sobald die Zündschnüre glommen, tauchten die Seeleute aus der Gefahrenzone und bedeckten die Ohren mit ihren Armen.
Die meisten der Kugeln verfehlten ihre bewegten Ziele, doch einige trafen die voll bemannten Schaluppen, wobei sie bizarre Fontänen von splitterndem Holz und abgetrennten Gliedern gen Himmel sandten. Die Zahl der Feinde schien sich zu vervielfachen, je näher sie der venezianischen Karavelle kamen, und erst als die ersten Armbrustbolzen die venezianischen Verteidiger von hinten durchbohrten, erkannten diese, dass sie in eine ausgeklügelte Falle getappt waren. Eine weitere Brigg war in ihrem Rücken aufgetaucht und spie wendige, mit Korsaren bemannte Ruderboote aus wie ein eingetretener Ameisenhügel. Die durch Pulverdampf verhangene Luft war erfüllt von Schreien und dem Gestank brennender Segelleinwand, da die Piraten dazu übergegangen waren, brennende Pfeile und mit flammendem Öl gefüllte Geschosse auf Segel und Takelung zu richten. Die Männer in den Booten nahe des venezianischen Handelsschiffes begannen, ihre Pistolen auf die Verteidiger abzufeuern, und das Mündungsfeuer blendete Elissa, die so schockiert war, dass ihr alles wie ein Traum erschien. Beinahe gleichzeitig wiesen mehrere Offiziere in ihrer Nähe auf das bauchige Heck der Karavelle, auf das ein scheinbar leeres Ruderboot zusteuerte. Zu spät erkannten die Venezianer, dass das Boot ein mit Schießpulver gefülltes, eisenbeschlagenes Fass herantrug. Ein gefährlich zischendes Glühen fraß sich unaufhaltsam die
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