Die Töchter der Lagune
verschwand in einem kleinen Gässchen unter dem Torre dell’ Orologio , dem Uhrenturm.
Kapitel 6
Die Adria, Straße von Sizilien, Dezember 1570
Auch wenn sie es vor Kurzem noch nicht für möglich gehalten hatte, fühlte Elissa sich wie ein neuer Mensch. Sie hatte heimlich von den Kräutern genommen, die der junge Seemann hatte fallen lassen, und sich in ihre Kabine zurückgezogen, wo sie sich schwer atmend auf die Liege hatte fallen lassen. Zunächst war die Seekrankheit unter Deck noch schlimmer geworden, doch nach einiger Zeit hatten der Schwindel und die Übelkeit nachgelassen, und sie war erschöpft und müde eingeschlummert. Beinahe vierzehn Stunden lang hatte sie traumlos geschlafen, und nun, da die frühe Morgensonne durch das Bullauge fiel und ihr Gesicht wärmte, fühlte sie sich erfrischt und stark genug, um aufzustehen. Maria, die in der schmalen Koje neben ihrer eigenen schlief, hatte die Kabine bereits verlassen und ihre Kleider bereitgelegt. An Bord eines Schiffes gab es weit weniger Luxus als zuhause in ihrem riesigen Palazzo, aber Elissa genoss es, Dinge ohne die Hilfe ihrer Zofe erledigen zu können. Sie schlüpfte in das relativ einfache Kleid, das Maria auf einem am Kabinenboden festgeschraubten Hocker zusammengefaltet hatte, kämmte und flocht ihr zerzaustes Haar und warf sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Dann zupfte sie ihre Kleidung zurecht und straffte die Schultern. Trotz der Angst vor der Sonne und dem Schaden, den diese ihrer Haut zufügen konnte, überkam sie ein unwiderstehlicher Drang, die Wärme auf ihrer Haut und den Wind in ihrem Haar zu spüren.
Nachdem sie sich ein Tuch über den blonden Schopf geworfen hatte – etwas, das sie in Venedig niemals getragen hätte – um sich wenigstens notdürftig vor dem Einfluss der Elemente zu schützen, stolperte sie die engen, ausgetretenen Stufen hinauf, die aufs Unterdeck führten. Mehr als einmal hätte sie um ein Haar den Halt verloren. Wie konnten die Seeleute nur die gefährlich anmutenden Wanten erklimmen, wenn das Schiff so furchtbar schaukelte?, fragte sie sich, während sie sich verkrampft an dem wackeligen Geländer festklammerte. Als sie endlich aus dem dunklen Rumpf ins Freie trat, traf sie das grelle Sonnenlicht wie ein Schlag und sie kniff die Augen zusammen. Hoch über ihr flatterten die enormen Segel lautstark im heftigen Ostwind, der die salzige Gischt durch die Luft trieb. Das Deck war belebt von geschäftig hin und her eilenden Männern, die Kommandos brüllten und Befehle ausführten, und deren Gesichter schweißnass glänzten. All die Emsigkeit faszinierte Elissa, und eine Zeit lang konnte sie den Blick nicht von dem Schauspiel losreißen. „Da seid Ihr ja, Signorina !“, ertönte Marias besorgte Stimme nach einer Weile über ihr. Sie lehnte an der hölzernen Reling des Oberdecks und wies auf die Kanonen zu Elissas rechter Hand. „Kommt dort entlang. Die Treppen führen direkt hier hinauf.“ Mit diesen Worten zog sie den Kopf zurück und verschwand, während Elissa langsam auf die bedrohlich wirkenden Kanonen zuschritt, auf die sie – so hoffte sie inständig – während dieser Überfahrt nach Rom würden verzichten können.
Ihr Vater und ihre Mutter waren um einen grob behauenen Holztisch in einer der geräumigeren Kabinen des Oberdecks versammelt. Maria und zwei weitere Bedienstete kümmerten sich um ihre Bedürfnisse und füllten ihre Gläser mit Schwachbier und Milch aus irdenen Krügen, die sie auf einem kleinen, mit Vertiefungen versehenen Beistelltischchen abstellten. Das Frühstück war äußerst reichlich, wenn auch schlicht. Frisches Brot, Käse, geräucherter Schinken und verschiedene Früchte türmten sich auf der rauen Tischplatte. Ihre Mutter schien die Mahlzeit bereits beendet zu haben, und einzig ihr Vater zerkaute noch den letzten Bissen, um ihn mit einem Schluck Wasser, den er trotz der vorwurfsvollen Blicke seiner Gemahlin mit etwas Rotwein vermengt hatte, hinunterzuspülen. „Guten Morgen“, begrüßte Elissa die Anwesenden, bevor sie sich auf einem der einfachen Stühle, die ihr einer der Diener anbot, niederließ. Hungrig griff sie nach der überladenen Obstschale und biss genüsslich in einen der saftigen, grünen Äpfel. Zwei volle Tage hatte sie aus Angst vor den verheerenden Auswirkungen auf ihren empfindlichen Magen kein Essen angerührt. Nun allerdings, da sie von ihrer Seekrankheit befreit zu sein schien, spürte sie erst, wie hungrig sie war. „Du siehst
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