Die Tore Der Finsternis
Hetherington ins Büro zurückkehrte, womöglich ohne die Nachricht zu entdecken. Watkins hatte sich nicht so angehört, als müsse man ihn nach Hause scheuchen, und war bei ihrer Rückkehr längst weg. Oder sie würde die Nachricht zwar finden, wäre aber zu müde, um anzurufen. Vielleicht hatte sie eine anstrengende Woche hinter sich. Siobhan selbst kamen die vergangenen Tage wie eine Ewigkeit vor. Sie wollte das Wochenende im Bett verbringen, lesen, ein bisschen dösen und dann wieder lesen. Allenfalls noch die Bettdecke zum Sofa schleppen und sich einen alten Schwarz-Weiß-Film ansehen. Außerdem hatte sie ein paar neue CDs, die sie noch nicht gehört hatte:
Hobotalk, Goldfrapp. Auf Fußball würde sie verzichten. Es stand ein Auswärtsspiel in Motherwell auf dem Programm.
Das Telefon blieb stumm. Siobhan zählte bis zehn, um ihm noch eine Chance zu geben, dann suchte sie ihre Sachen zusammen und verließ das Büro.
Im Wagen schob sie die letzte CD von REM ein. Sie hatte eine Spieldauer von dreiundfünfzig Minuten - das würde fast bis Dundee reichen.
Sie hatte allerdings nicht mit dem Freitag-Nachmittags-Verkehr ins Umland gerechnet, der zu langen Schlangen vor den Mautstellen an der Forth Road Bridge führte. Danach trat sie das Gaspedal durch. Ihr Handy steckte im Ladegerät. Immer noch kein Rückruf von Hetherington. Siobhan kontrollierte alle paar Minuten, ob vielleicht eine SMS eingegangen war. Je weiter sie nach Norden kam, desto besser fühlte sie sich. Im Grunde war es ihr egal, ob sie auf der Wache in Dundee jemanden antreffen würde oder nicht. Es tat einfach gut, aus Edinburgh herauszukommen, und es führte ihr vor Augen, dass die Welt nicht an der Stadtgrenze aufhörte. Sie hatte noch nie beruflich in Dundee zu tun gehabt, aber als Fußballfan war sie schon häufig dort gewesen. Die Stadien der beiden einheimischen Mannschaften befanden sich in nächster Nähe. Es gab ein paar Pubs im Zentrum, in denen Siobhan hin und wieder vor dem Anpfiff ein Glas getrunken hatte, den Hibs-Schal in den Tiefen ihrer Umhängetasche vergraben. Ein Hinweisschild kündigte die Abfahrt in Richtung Tay Road Bridge an, aber darauf war sie nur einmal hereingefallen. Wenn man hier die Autobahn verließ, wurde man auf kurvenreichen Straßen durch die Dörfer von Fife geschickt. Sie blieb deshalb auf der M90, ließ Perth links liegen und fuhr dann von Westen kommend nach Dundee hinein. Diese Strecke mündete scheinbar in einen Kreisverkehr nach dem anderen. Siobhan befand sich gerade in einem davon, als ihr Telefon klingelte.
»Ich hab Ihre Nachricht bekommen«, sagte eine weibliche Stimme.
»Vielen Dank für den Rückruf. Ich bin übrigens schon fast bei Ihnen.«
»Sie sind wohl ziemlich diensteifrig, was?«
»Vielleicht hatte ich einfach Lust auf einen Abend in Dundee.«
»In diesem Fall sollten Sie ›diensteifrig‹ durch ›wahnsinnig‹ ersetzen.«
Siobhan wusste, dass sie DS Hetherington mögen würde. »Ich heiße übrigens Siobhan«, sagte sie.
»Und ich Liz.«
»Wenn Sie zufällig gerade Schluss für heute machen wollen, Liz, könnten wir uns in einem Pub treffen, denn ich muss gestehen, dass ich mich mit den Pubs in Ihrer Stadt besser auskenne als mit den Polizeiwachen.«
Hetherington lachte. »Ich glaube, ich könnte mich zu einem Glas überreden lassen.«
»Prima.« Siobhan nannte ihr ein Lokal, das auch Hetherington bekannt war.
»In zehn Minuten?«
»In zehn Minuten«, bestätigte Hetherington.
»Und wie werden wir uns erkennen?«
»Das dürfte kein Problem sein, Siobhan. In diesem Laden stellen Frauen ohne männliche Begleitung eine bedrohte Art dar.«
Sie hatte Recht.
Siobhan kannte den Pub bisher nur von den Samstagnachmittagen, an denen sie dort unbehelligt, inmitten einer Schar von Hibs-Fans, ihr Bier getrunken hatte. Am späten Freitagnachmittag versammelte sich dort jedoch eine vollkommen andere Klientel. Gruppen von Büroangestellten läuteten ausgelassen das Wochenende ein. Die einzigen einsamen Zecher waren ein paar griesgrämig dreinblickende
Männer am Tresen. Paare trafen sich hier nach der Arbeit und tauschten die Neuigkeiten des Tages aus. In Einkaufstüten vom Supermarkt steckte das Abendessen. Tanzmusik wummerte aus den Lautsprechern, und im Fernseher lief eine Sportsendung ohne Ton. Der Raum war ziemlich groß, aber Siobhan hatte trotzdem Mühe, einen Platz zu finden, von dem aus sie die Tür im Auge behalten konnte. Dass der Pub zwei Eingänge besaß, machte die
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