Die Tore der Welt
Mensch, der Mama ein wenig Linderung verschaffen konnte. Sie
hatte einen Extrakt aus Klatschmohn, den sie mit Honig und warmem Wein mischte
und der Mutter zumindest kurzfristig ein wenig von ihren Schmerzen nahm. Für
Caris war Cecilia besser als jeder Engel.
»Das ist nicht
nötig, Liebes«, sagte Mama. »Wie war es in der Kirche?« Caris bemerkte, wie
bleich die Lippen ihrer Mutter waren.
»Unheimlich«,
antwortete sie.
Mama sammelte kurz
ihre Kräfte und fragte dann: »Was hast du heute Morgen gemacht?«
»Ich habe beim
Bogenschießen zugeschaut.« Caris hielt den Atem an. Sie hatte Angst, dass
Mutter ihr Geheimnis erahnen könnte, wie sie es des Öfteren tat.
Doch Mama schaute
zu Gwenda. »Wer ist deine kleine Freundin?« »Das ist Gwenda. Ich habe sie
mitgebracht, um ihr die Welpen zu zeigen.« »Das ist nett.« Mama sah plötzlich
ganz müde aus. Sie schloss die Augen und wandte den Kopf ab.
Die beiden Mädchen
schlichen hinaus.
Gwenda schaute
entsetzt drein. »Was stimmt nicht mit ihr?«
»Sie hat die
Schüttellähme.« Caris sprach nur ungern darüber.
Die Krankheit ihrer
Mutter vermittelte ihr das nerven zehrende Gefühl, dass nichts im Leben sicher
war, dass alles geschehen konnte und dass man sich nirgends auf der Welt davor
zu verstecken vermochte. Das war sogar noch furchterregender als der Kampf, den
sie im Wald gesehen hatte. Wenn sie darüber nachdachte, was geschehen könnte,
dass ihre Mutter vielleicht sterben würde, dann breitete sich ein Gefühl von
Panik in ihrer Brust aus, und sie wollte nur noch schreien.
Das mittlere
Schlafgemach wurde im Sommer von den Italienern genutzt, Wolleinkäufern aus
Florenz und Prato, die Geschäfte mit Papa machten. Jetzt war es leer. Die
Welpen befanden sich im hinteren Schlafgemach, das Caris und ihrer Schwester
Alice gehörte. Sie waren sieben Wochen alt, bereit, von der Mutter entwöhnt zu
werden, die allmählich ungeduldig mit ihnen wurde. Gwenda stieß ein erfreutes
Seufzen aus und hockte sich sofort auf den Boden neben sie.
Caris nahm den
Kleinsten des Wurfs auf den Arm, eine lebhafte Hündin, die immer allein los
zog, um die Welt zu erkunden. »Die will ich behalten«, sagte sie. »Sie heißt
Scrap.« Den kleinen Hund in den Armen zu halten tröstete sie und half ihr, ihre
Sorgen zu vergessen.
Die anderen vier
kletterten über Gwenda, beschnüffelten sie und kauten an ihrem Kleid. Gwenda
hob ein hässliches braunes Hündchen mit langer Schnauze und dicht beisammen stehenden
Augen hoch. »Den mag ich«, sagte sie. Der Welpe rollte sich in ihrem Schoß
zusammen.
Caris fragte:
»Würdest du ihn gerne behalten?« Gwenda traten die Tränen in die Augen. »Darf
ich?« »Wir dürfen sie abgeben.«
»Wirklich?«
»Papa will nicht
noch mehr Hunde. Wenn er dir gefällt, dann kannst du ihn haben.«
»Oja«, sagte Gwenda
im Flüsterton. »Ja, bitte.« »Wie wirst du ihn nennen?«
»Es soll mich an
Hop erinnern. Vielleicht werde ich ihn Skip rufen.« »Das ist ein guter Name.«
Caris sah, dass Skip bereits in Gwendas Schoß eingeschlafen war.
Die beiden Mädchen
saßen schweigend bei den Hunden. Caris dachte an die beiden Jungen, die sie
getroffen hatten, an den kleinen Rothaarigen mit den goldbraunen Augen und
seinen großen, gut aussehenden jüngeren Bruder. Was hatte sie eigentlich dazu
bewegt, sie in den Wald zu führen? Es war nicht das erste Mal, dass Caris, ohne
weiter nachzudenken, einer törichten Eingebung gefolgt war. Das passierte
zumeist dann, wenn jemand mit Autorität ihr befahl, etwas nicht zu tun. Ihre
Tante Petronilla zum Beispiel war eine große Regelmacherin. »Füttere die Katze
nicht, sonst werden wir sie nie los! Keine Ballspiele im Haus! Halt dich von
dem Jungen fern; seine Familie sind Bauern!« Regeln, die sie in ihrer Freiheit
einschränkten, trieben Caris in den Wahnsinn.
Aber noch nie hatte
sie etwas derart Törichtes getan. Allein der Gedanke daran ließ sie schon
zittern. Zwei Männer waren gestorben, aber was hätte geschehen können, war noch
viel schlimmer:
Die vier Kinder
hätten getötet werden können.
Caris fragte sich,
warum die Männer wohl gekämpft und warum Soldaten einen Ritter gejagt hatten.
Offensichtlich war das kein gewöhnlicher Raubüberfall gewesen. Sie hatten von
einem Brief gesprochen. Doch Merthin hatte kein Wort mehr darüber gesagt.
Wahrscheinlich
hatte er nicht mehr erfahren. Der Brief war eben noch so ein Mysterium des
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