Die Tore der Welt
sie konnte nicht anders, sie musste an den Vater des Jungen
denken, an Nate, und wie bestürzt er über die Verletzungen seines Sohnes sein
musste. Jonnos Mutter war an der Pest gestorben, deshalb war wenigstens sie an
einem Ort, wo der Kummer ihr nichts mehr anhaben konnte.
Gwenda sah, dass
Sam nicht schlimm verletzt war. Er blutete, aber er wehrte sich noch gegen die
Männer, die ihn festhielten, und versuchte sich zu befreien, um wieder
zuschlagen zu können.
Gwenda beugte sich
über Jonno. Er hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Als sie die
Hand auf sein Herz legte, spürte sie nichts. Sie suchte nach dem Puls, wie
Caris es ihr gezeigt hatte, aber sie fand keinen. Jonno atmete nicht mehr.
Ihr dämmerte, was
es zu bedeuten hatte, was geschehen war, und sie begann zu weinen.
Jonno war tot, und
Sam war ein Mörder.
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KAPITEL 82
Am Ostersonntag
dieses Jahres 1361 war Caris zehn Jahre lang mit Merthin verheiratet.
Während sie in der
Kathedrale stand und der Osterprozession zusah, erinnerte sie sich an ihre
Hochzeit. Weil Merthin und sie so lange, wenn auch immer wieder unterbrochen,
Geliebte gewesen waren, hatten sie ihre Trauung als nichts weiter als die
Bestätigung einer lange feststehenden Tatsache betrachtet und törichterweise an
eine kleine, stille Feier gedacht: einen bescheidenen Gottesdienst in der
Kirche von St. Mark, und danach für den engsten Kreis ein Festmahl im Bell.
Doch Vater Joffroi unterrichtete das Brautpaar am Tag vor der Hochzeit, dass
seines Wissens mindestens zweitausend Menschen beabsichtigten, zu der
Vermählung zu kommen, und sie sahen sich gezwungen, in der Kathedrale zu
heiraten. Dann stellte sich heraus, dass Madge Webber insgeheim für die führenden
Bürger ein Bankett im Rathaus veranstaltete und für alle anderen Kingsbridger
ein Fest im Freien auf Lovers‘ Field organisiert hatte. Am Ende war es daher
die Hochzeit des Jahres geworden.
Caris lächelte bei
der Erinnerung. Sie hatte ein neues Kleid aus Kingsbridger Scharlach getragen,
in einer Farbe also, die der Bischof für eine Frau wie sie vermutlich als
angemessen erachtete. Merthin trug ein reich gemustertes italienisches Gewand,
kastanienbraun und mit goldenen Fäden durchwirkt, und strahlte vor Glück. Beide
bemerkten verspätet, dass ihre ausgedehnte Liebesaffäre, die sie stets für ein
privates Drama gehalten hatten, die Bürger von Kingsbridge jahrelang
unterhalten hatte und dass jeder ihr glückliches Ende feiern wollte.
Caris‘ angenehme
Erinnerungen verflogen, als nun ihr alter Feind Philemon in die Kanzel stieg.
In dem Jahrzehnt, seit sie ihre Gelübde widerrufen hatte, hatte er an Gewicht
zugelegt. Seine Mönchstonsur und das glatt rasierte Gesicht offenbarten einen
Speckring um den Hals, und der Priestertalar wölbte sich wie ein Zelt.
Er hielt eine Predigt
gegen das Sezieren.
Die Körper der
Toten gehörten Gott, sagte Philemon. Jeder Christ sei angewiesen, sie nach
einem genau festgelegten Ritus zu bestatten; die Erlösten in geweihter Erde,
die Verdammten andernorts. Mit Leichen anders, gleich wie, zu verfahren
verstoße gegen Gottes Willen. Sie aufzuschneiden sei ein Sakrileg, betonte
Philemon mit einer Inbrunst, die gar nicht zu ihm passen wollte. Seine Stimme
bebte sogar, als er die Gemeinde bat, sich den schrecklichen Anblick eines
Menschenleibes vorzustellen, der von sogenannten medizinischen Forschern
geöffnet, in seine Teile zerlegt und zerschnitten und durchbohrt werde. Wahre
Christen wüssten, dass es für die Taten solcher leichenschänderischer Männer
und Frauen keine Entschuldigung gebe.
Die Wendung »Männer
und Frauen« war aus Philemons Mund nicht oft zu hören, sagte sich Caris, und
wenn er sie heute benutzte, musste ein tieferer Sinn dahinterstecken. Sie
blickte Merthin an, der neben ihr im Hauptschiff stand, und er hob die Brauen
zu einer besorgten Miene.
Das Verbot der
Leichenöffnung war eine gängige Lehrmeinung und wurde von der Kirche vertreten,
so weit Caris zurückdenken konnte, doch seit der Pest hatte man es gelockert.
Vielen jüngeren Geistlichen stand lebhaft vor Augen, wie sehr die Kirche während
des Schwarzen Todes die Menschen im Stich gelassen hatte, und sie wollten
unbedingt ändern, wie die Medizin von den Priestern gelehrt und praktiziert
wurde. Der konservative ältere Klerus jedoch hing fest den alten Wegen an und
verhinderte jeden Wandel. Letzten Endes war das Sezieren im Prinzip
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