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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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machte.
    Caris musste oft an
das Kind denken, das sie von Merthin empfangen und dann abgetrieben hatte.
Stets stellte sie sich vor, es wäre ein Mädchen geworden. Sie wäre jetzt eine
Frau, sann Caris, von dreiundzwanzig Jahren, wäre wohl verheiratet und hätte
eigene Kinder. Der Gedanke war wie der Schmerz einer alten Wunde, qualvoll,
aber zu vertraut, als dass man sich darüber erregte.
    Als die Messe
vorüber war, verließen sie gemeinsam das Gotteshaus. Die Jungen waren, wie
stets, zum Sonntagsessen eingeladen.
    Vor der Kathedrale
wandte Merthin sich um und blickte auf den neuen Turm über der Vierung, der
mittlerweile hoch gen Himmel strebte.
    Während er seine
beinahe beendete Arbeit betrachtete und über einige Einzelheiten die Stirn
runzelte, die nur er sah, musterte Caris ihn liebevoll. Sie kannte ihn, seit er
elf Jahre alt gewesen war, und hatte ihn fast genauso lange geliebt. Er war nun
fünfundvierzig. Sein rotes Haar wich aus der Stirn zurück und umgab seinen Kopf
wie ein krauser Heiligenschein. Seitdem ein kleiner behauener Kragstein, der
einem achtlosen Mauerer vom Gerüst gefallen war, ihn an der linken Schulter
getroffen hatte, hielt er den Arm steif. Trotzdem zeigte sein Gesicht noch
immer den Ausdruck jungenhaften Eifers, der an einem Samhainabend vor einem
Dritteljahrhundert die zehnjährige Caris zu ihm hingezogen hatte.
    Sie wandte sich um
und sah in die gleiche Richtung wie er. Der Turm schien genau auf den vier
Seiten der Vierung zu stehen und exakt zwei Joche im Geviert groß zu sein,
obwohl sein Gewicht tatsächlich von massiven Strebepfeilern getragen wurde, die
in die Außenecken der Querschiffe eingebaut waren und wiederum auf neuen
Fundamenten ruhten, welche Merthin vor dem ursprünglichen alten Unterbau
errichtet hatte. Mit seinen schlanken Säulen und zahlreichen Fensteröffnungen,
durch die man bei schönem Wetter den blauen Himmel sehen konnte, wirkte der
Turm leicht und luftig. Über dem quadratischen Dach des Turmes wurde ein Gerüst
errichtet, um den letzten Teil, die Turmspitze, bauen zu können.
    Als Caris den Blick
wieder senkte, sah sie, dass ihre Schwester näher kam. Mit fünfundvierzig war
Alice nur ein Jahr älter als sie, doch Caris erschien es oft, als entstammte
ihre Schwester einer anderen Generation. Elfric, ihr Mann, war an der Pest
gestorben, und sie hatte nicht wieder geheiratet, sondern war eine verbitterte
alte Frau geworden, als dächte sie, eine Witwe müsse ihren Verlust jederzeit
vor sich hertragen. Vor langer Zeit hatte sich Caris über die Behandlung, die
Elfric seinem Lehrjungen Merthin angedeihen ließ, mit Alice entzweit. Im Laufe
der Zeit hatten die gegenseitigen Feindseligkeiten an Schärfe verloren, doch
als Alice ihre Schwester begrüßte, kündete die Haltung ihres Kopfes dennoch von
einem nachtragenden Groll.
    Neben ihr ging ihre
Stieftochter Griselda, die nur ein Jahr jünger war als Alice. Griseldas Sohn,
als Merthin Bastard bekannt, stand neben ihr und überragte sie, ein großer Mann
mit oberflächlichem Charme — ganz wie sein Vater, der lange verschwundene
Thurstan, und von Merthin Bridger so verschieden, wie es nur möglich war.
Griselda wurde ferner von ihrer sechzehnjährigen Tochter Petronilla begleitet.
    Griseldas Ehemann,
Harold Mason, hatte das Geschäft übernommen, nachdem Elfric gestorben war.
Merthin zufolge war er kein großer Baumeister, aber es ging ihm ganz gut, auch
wenn er nicht das Monopol auf Reparaturen und Erweiterungen an der Priorei
besaß, durch das Elfric ein reicher Mann geworden war. Er stand nun neben Merthin
und sagte: »Die Leute glauben, Ihr wollt die Turmspitze ganz ohne Schalung
bauen.«
    Caris verstand. Die
Schalung war der hölzerne Aufbau, der das Mauerwerk an Ort und Stelle hielt,
während der Mörtel trocknete.
    »Das enge Türmchen bietet nicht genug Platz
für eine Schalung«, erwiderte Merthin. »Und wo sollten wir das Lehrgerüst
unterbringen?« Sein Tonfall blieb höflich, doch seiner Forschheit merkte Caris
an, dass er Harold nicht leiden konnte.
    »Ich würde es für
machbar halten, wenn die Turmspitze rund wäre.« Auch das verstand Caris. Ein
runder Turm ließ sich errichten, indem man einen Ring aus Steinen auf den
anderen legte und jeden um eine Winzigkeit schmaler machte als den
vorhergehenden. Dabei brauchte man keine Schalung, weil die Ringe sich
gegenseitig stützten: Die Steine konnten nicht einwärts fallen, weil sie

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