Die Tore der Welt
verboten,
wurde aber in der Praxis geduldet.
Caris hatte von
Anfang an in ihrem neuen Hospital Leichenöffnungen durchgeführt. Außerhalb des
Gebäudes sprach sie niemals darüber: Es hatte keinen Zweck, die Abergläubischen
zu beunruhigen. Doch bei jeder Gelegenheit, die sich bot, sah sie in die Körper
der Toten.
In den letzten
Jahren gesellte sich gewöhnlich einer, manchmal auch zwei der jüngeren
Mönchsärzte hinzu. Viele ausgebildete Ärzte erhielten niemals Einblick in den
menschlichen Körper, es sei denn, sie behandelten sehr tiefe Wunden. Öffnen
durften sie traditionell nur die Kadaver von Schweinen, von denen man sagte, es
seien die Tiere, deren Anatomie der des Menschen am meisten gleiche.
Caris war sowohl
verdutzt als auch besorgt über Philemons Attacke. Er hatte sie stets gehasst,
das wusste sie, auch wenn sie nie sicher hätte sagen können, was der Grund
dafür war. Seit dem großen Unentschieden im Winter 1351 hatte Philemon sie
nicht mehr beachtet. Als wollte er seinen Verlust an Macht über die Stadt ausgleichen,
schmückte er seinen Palast mit kostbaren Dingen: Gobelins, Teppichen,
Silbergeschirr, Buntglasfenstern, illuminierten Handschriften. Der Prior zu
Kingsbridge gebärdete sich immer erhabener. Er trug prächtige Talare zu den
Messen und reiste, wenn er in andere Städte musste, in einem Wagen, der
eingerichtet war wie das Gemach einer Herzogin.
Während der Messe
waren mehrere bedeutende Geistliche im Chor, die zu Besuch in Kingsbridge
weilten — Bischof Henri von Shiring, Erzbischof Piers von Monmouth und
Erzdiakon Reginald von York —, und wahrscheinlich hoffte Philemon sie mit
seinem Ausbruch konservativer Doktrin zu beeindrucken. Zu welchem Zweck aber?
Wollte er befördert werden? Der Erzbischof war krank — man hatte ihn in die
Kirche tragen müssen —, doch Philemon konnte es doch nicht auf seine Stellung
abgesehen haben? Allein dass der Sohn von Joby aus Wigleigh zum Prior von
Kingsbridge aufgestiegen war, bedeutete schon ein Wunder. Zudem hätte die
Erhebung vom Prior zum Erzbischof einen ungewöhnlich großen Sprung bedeutet,
fast als würde ein Ritter zum Herzog erhoben, ohne zuvor Baron oder Graf zu
werden. Nur ein besonderer Günstling konnte auf solch rasanten Aufstieg hoffen.
Doch Philemons
Ehrgeiz, wie Caris wohl wusste, kannte keine Grenzen. Nicht weil er sich für
unglaublich hoch qualifiziert hielt. Godwyn war solch ein Mensch gewesen, von
arroganter Selbstsicherheit bestimmt. Godwyn hatte angenommen, dass Gott ihn
zum Prior gemacht habe, weil er der klügste Mann der Stadt sei. Philemon war
das genaue Gegenteil: Im Grunde seines Herzens hielt er sich für einen Niemand.
Sein Leben war ein Feldzug, mit dem er sich überzeugen wollte, nicht vollkommen
wertlos zu sein. Auf Zurückweisung reagierte er so empfindlich, dass er den
Gedanken, für irgendein Amt, und sei es noch so erhaben, ungeeignet zu sein,
schlichtweg nicht ertragen konnte.
Caris überlegte, ob
sie nach der Messe mit Bischof Henri sprechen sollte. Sie konnte ihn an das
zehn Jahre alte Abkommen erinnern, nach dem der Prior von Kingsbridge keinerlei
Hoheit über das Hospital der heiligen Elisabeth auf Leper Island besaß, welches
der direkten Gewalt des Bischofs unterstand, und dass daher jede Anfeindung des
Hospitals einen Angriff auf die Rechte und Privilegien Henris bedeutete. Doch
solch ein Protest, das wurde ihr bei näherer Überlegung klar, hätte dem Bischof
nur bestätigt, dass sie Sektionen durchführte, und was bislang lediglich ein
vager Verdacht war, den er leicht übergehen konnte, wäre damit zu einer
bekannten Tatsache geworden, auf die er reagieren musste. Daher beschloss
Caris, Schweigen zu wahren.
Neben ihr standen
die beiden Neffen Merthins, die Söhne von Graf Ralph: Gerry, der dreizehn, und
Roley, der zehn Jahre alt war. Beide Jungen besuchten die Schule des
Mönchsklosters. Sie wohnten in der Priorei, aber ihre Freizeit verbrachten sie
oft bei Merthin und Caris im Haus auf der Insel. Merthin ließ seine Hand
beiläufig auf Roleys Schulter ruhen. Nur drei Menschen auf der ganzen Welt
wussten, dass Roley nicht sein Neffe war, sondern sein Sohn: Merthin, Caris und
die Mutter des Jungen, Lady Philippa. Merthin versuchte Roley niemals in
irgendeiner Weise vorzuziehen, doch er fand es schwer, seine Empfindungen zu verbergen,
und war immer besonders erfreut, wenn Roley etwas Neues lernte oder sich in der
Schule gut
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