Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:

gegeneinanderdrückten. Für eine Form mit Ecken galt das jedoch nicht.
    »Ihr habt die
Zeichnungen gesehen«, sagte Merthin. »Es ist ein Achteck.« Die Eckfialen am
oberen Rand des quadratischen Turmes zeigten diagonal nach außen und führten
das Auge, während es sich zu dem anderen Umriss hinauf bewegte. Merthin hatte
dieses Merkmal von der Kathedrale in Chartres kopiert. Sinn ergab es jedoch nur
bei einer achteckigen Turmspitze.
    Harold sagte: »Aber wie wollt Ihr einen
achteckigen Turm ohne Schalung bauen?«
    »Wartet nur ab,
dann seht Ihr‘s«, erwiderte Merthin und ging davon.
    Als sie der
Hauptstraße folgten, fragte Caris: »Warum verrätst du den Leuten nicht, wie du
es machen willst?«
    »Damit sie mich
nicht entlassen können«, antwortete er. »Als ich die Brücke bauen sollte, haben
sie mich ausgebootet, nachdem ich den schwierigen Teil getan hatte, und
jemanden in Dienst genommen, der billiger war als ich.«
    »Ich erinnere mich
gut.«
    »Das können sie
diesmal nicht, weil außer mir niemand die Turmspitze zu bauen versteht.«
    »Damals warst du
ein junger Mann. Heute bist du Ratsältester. Niemand würde es wagen, dir den
Auftrag abzunehmen.«
    »Vielleicht nicht.
Trotzdem ist es schön zu wissen, dass sie es einfach nicht könnten.«
    Am Ende der
Hauptstraße, wo die alte Brücke gestanden hatte, gab es eine Schänke von üblem
Ruf, die das White Horse hieß. Caris sah, dass Merthins sechzehnjährige Tochter
Lolla in einer Gruppe von älteren Freunden an der Außenmauer lehnte. Lolla war
ein hübsches Mädchen mit olivfarbener Haut und glänzend schwarzem Haar, einem
üppigen Mund und schwülen braunen Augen. Die Gruppe scharte sich um ein
Würfelspiel, und alle tranken sie Bier aus großen Krügen. Caris war traurig,
aber nicht überrascht, als sie ihre Stieftochter am helllichten Tag auf der
Straße zechen sah.
    Merthin wurde
ärgerlich. Er ging zu Lolla und nahm sie beim Arm. »Du kommst lieber zum Essen
mit nach Hause«, sagte er mit gepresster Stimme.
    Sie warf den Kopf
zur Seite und schwenkte das dichte Haar in einer Geste, die zweifellos für die
Augen eines anderen als ihres Vaters bestimmt waren. »Ich will nicht nach
Hause, ich fühle mich hier wohl«, erwiderte sie.
    »Ich habe dich
nicht nach deinen Wünschen gefragt«, entgegnete Merthin und zerrte sie von den
anderen fort.
    Ein gut aussehender
junger Mann von etwa zwanzig löste sich aus der Menge. Er hatte lockiges Haar
und zeigte ein spöttisches Grinsen, und er stocherte sich mit einem Zweig in
den Zähnen. Caris erkannte Jake Riley, einen Burschen ohne besonderen Beruf,
der dennoch stets die Taschen voller Geld zu haben schien. »Was ist denn hier
los?«, fragte er. Beim Sprechen ließ er den Zweig aus dem Mund ragen wie eine
Beleidigung.
    »Das geht dich
nichts an«, erwiderte Merthin.
    Jake stellte sich ihm
in den Weg. »Das Mädchen will nicht gehen.« »Du gibst mir jetzt den Weg frei,
Freundchen, es sei denn, du möchtest den Rest des Tages am städtischen Pranger
stehen.« Caris erstarrte besorgt. Merthin war im Recht: Ihm stand es zu, Lolla
zu maßregeln, denn sie wurde erst in fünf Jahren mündig. Jake war aber die
Sorte junger Mann, der vielleicht trotzdem zuschlug und die Folgen auf sich
nahm. Dennoch mischte sich Caris nicht ein, denn sie wusste, dass Merthin dann
statt auf Jake auf sie wütend werden konnte.
    Jake sagte: »Du
bist wohl ihr Vater.«
    »Du weißt sehr
genau, wer ich bin, und du wirst mich mit Ratsältester anreden, dich eines
anderen Tones befleißigen und mich nicht duzen, sonst hast du dir die Folgen
selbst zuzuschreiben.«
    Jake starrte
Merthin unverschämt an, dann wandte er sich zur Seite und sagte beiläufig:
»Ja,ja, sicher.«
    Caris war
erleichtert, dass es zu keinen Handgreiflichkeiten gekommen war. Merthin brach
sonst nie einen Streit vom Zaun, aber Lolla konnte ihn zur Raserei bringen.
    Sie gingen zur
Brücke. Lolla riss sich aus dem Griff ihres Vaters los und ging mit finster
gesenktem Kopf voraus, die Arme unter den Brüsten verschränkt, und murmelte
schmollend vor sich hin.
    Merthin hatte Lolla
nicht zum ersten Mal in schlechter Gesellschaft ertappt. Er war entsetzt und
erzürnt, dass sein kleines Mädchen derartigem Volk so entschlossen nachlaufen
sollte. »Warum tut sie das?«, fragte er Caris, während sie Lolla über die
Brücke nach Leper Island folgten.
    »Das weiß Gott
allein.« Caris war aufgefallen, dass ähnliches

Weitere Kostenlose Bücher