Die Tore der Welt
Verhalten bei Heranwachsenden,
die ein Elternteil verloren hatten, häufiger vorkam. Nach Silvias Tod war Lolla
von Bessie Bell, Lady Philippa, Merthins Haushälterin Em und natürlich Caris
selbst bemuttert worden. Vielleicht wusste sie nicht recht, welcher Stiefmutter
sie nacheifern sollte. Caris sprach den Gedanken jedoch nicht aus, um Merthin
nicht das Gefühl zu geben, er habe als Vater in irgendeiner Hinsicht versagt.
»Als ich in ihrem Alter war, hatte ich ständig furchtbaren Streit mit Tante
Petronilla.«
»Worüber?«
Ȁhnliche Dinge.
Ihr passte es nicht, dass ich Zeit mit Mattie Wise verbrachte.«
»Das ist etwas ganz
anderes. Du bist nicht mit irgendwelchen Strolchen in übel beleumdete Schänken
gegangen.« »Petronilla hielt Mattie für schlechte Gesellschaft.« »Es ist nicht
das Gleiche.« »Wohl nicht.«
»Von Mattie hast du
viel gelernt.«
Lolla lernte
zweifellos viel von dem gut aussehenden Jake Riley, doch diesen aufwühlenden
Gedanken behielt Caris für sich — Merthin war schon zornig genug.
Die Insel war
endlich fertig bebaut und gehörte fest zur Stadt. Sie hatte sogar ihre eigene
Gemeindekirche. Wo man einst über Ödland schritt, folgte der Fuß nun einem Weg,
der gerade zwischen Häusern hindurchführte und scharfe Ecken beschrieb. Die
Kaninchen waren lange verschwunden. Das Hospital nahm den Großteil des
westlichen Inselzipfels ein. Obwohl Caris jeden Tag dorthinging, empfand sie
noch immer einen warmen Stolz, wenn ihr Blick auf das saubere graue Mauerwerk,
die regelmäßigen Reihen aus großen Fenstern und die Kamine fiel, die sich
nebeneinander in die Höhe reckten wie Soldaten in der Schlachtreihe.
Durch ein Tor kamen
sie auf Merthins Land. Der Obsthain stand in vollem Wuchs, und schneeweiße
Blüten schmückten die Apfelbäume.
Wie immer gingen
sie durch die Küchentür ins Haus. Das Gebäude hatte ein zum Fluss weisendes
großes Portal, das nie jemand nutzte. Selbst ein brillanter Architekt kann
einen Fehler begehen, dachte Caris amüsiert; doch auch diesmal beschloss sie,
den Gedanken heute nicht in Worte zu kleiden.
Lolla stapfte nach
oben in ihr Zimmer.
Aus dem vorderen
Zimmer rief eine Frau: »Seid gegrüßt, ihr alle!« Mit fröhlichen Rufen schossen
die beiden Jungen in den Raum davon. Die Stimme gehörte ihrer Mutter, Lady
Philippa. Merthin und Caris begrüßten sie herzlich.
Als Caris und
Merthin geheiratet hatten, waren Caris und Philippa Schwägerinnen geworden,
aber durch ihre zurückliegende Rivalität hatte sich Caris einige Jahre lang in
Philippas Gesellschaft stets unwohl gefühlt. Am Ende hatten die Kinder sie
zusammengebracht. Als erst Gerry und dann Roley auf die Klosterschule kamen,
lag es auf der Hand, dass Merthin sich um seine Neffen kümmerte, und danach
wurde es zur Selbstverständlichkeit, dass Philippa in Merthins Haus kam, wann
immer sie in Kingsbridge weilte.
Zuerst war Caris
eifersüchtig gewesen, weil Philippa eine sexuelle Anziehung auf Merthin
ausgeübt hatte. Merthin hatte nie vorzugeben versucht, seine Liebe zu Philippa
sei nur oberflächlich gewesen. Lady Philippa war ihm nach wie vor nicht gleichgültig.
Das Leben hatte ihr arg mitgespielt. Sie war jetzt neunundvierzig, sah aber
älter aus. Ihr Haar war grau geworden, und die Enttäuschung hatte tiefe Linien
in ihr Gesicht gegraben. Sie lebte nur noch für ihre Kinder. Bei ihrer Tochter
Odila, der Gräfin von Monmouth, war sie regelmäßig zu Gast, und hielt sie sich
nicht dort auf, verbrachte sie viel Zeit bei ihren Söhnen in der Priorei zu
Kingsbridge. Philippa gelang es, nur sehr wenig Zeit mit ihrem Ehemann Ralph
auf Earlscastle zu verbringen.
»Ich muss die
Jungen nach Shiring bringen«, erklärte sie ihre Ankunft. »Ralph möchte, dass
sie mit ihm zum Grafschaftsgericht kommen. Er sagt, es sei ein wichtiger Teil
ihrer Erziehung.«
»Da hat er recht«,
sagte Caris. Gerry würde Graf werden, wenn er lange genug lebte, und wenn
nicht, erbte Roley den Titel. Beide mussten sie daher mit Gerichtshöfen
vertraut sein.
Philippa fügte
hinzu: »Ich wollte zur Ostermesse in die Kathedrale kommen, aber an meinem
Wagen brach ein Rad, und ich konnte erst heute Morgen weiterfahren.«
»Nun, wo du nun
hier bist, bleibst du hoffentlich zum Essen«, sagte Caris.
Sie gingen in den
Speisesaal. Caris öffnete das Fenster, durch das man auf den Fluss blickte.
Kühle frische Luft drang herein. Sie fragte sich, was Merthin wegen Lolla
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