Die Tore der Welt
nieste noch, aber er war alt genug, um zu wissen, wie
ernst es um ihn stand, und sah sie verängstigt an.
Als sie fertig war,
sagte sie zu Giles: »Versuche, es ihnen bequem zu machen, und gib ihnen zu
trinken. Sonst kannst du nichts tun. Habt ihr Verwandte? Onkel oder Vettern?«
»Sie sind alle in
Wales.«
Sie nahm sich vor,
Bischof Henri darauf vorzubereiten, dass er sich vielleicht um einen
Waisenjungen kümmern musste.
»Mutter hat mir aufgetragen, ich soll Euch
bezahlen«, sagte der Junge.
»Ich habe nicht
viel für euch getan«, sagte Caris. »Du kannst mir sechs Pence geben.«
Neben dem Bett der
Mutter lag eine lederne Geldbörse. Er nahm sechs Silberpennys heraus.
Die Frau richtete
sich wieder auf. Mit ruhigerer Stimme fragte sie: »Was fehlt uns?«
»Es tut mir leid«,
antwortete Caris, »aber es ist die Pest.« Die Frau nickte schicksalsergeben.
»Das hatte ich befürchtet.« »Erkennt Ihr die Anzeichen nicht vom letzten Mal?«
»Wir lebten damals in einem kleinen Ort in Wales — wir sind dem Schwarzen Tod
entgangen. Müssen wir nun sterben?« Caris hielt nichts davon, Menschen in solch
wichtigen Fragen zu täuschen. »Einige überleben es«, sagte sie. »Aber nicht
viele.« »Möge Gott mit uns Erbarmen haben«, sagte die Frau.
»Amen«, erwiderte
Caris.
Auf dem ganzen
Rückweg nach Kingsbridge brütete Caris über der Pest. Sie würde sich natürlich
ausbreiten, genauso schnell wie beim letzten Mal, und Tausende töten. Die
Aussicht erfüllte Caris mit Zorn. Fast glich sie dem sinnlosen Blutvergießen
des Krieges, nur dass der Krieg ein Werk von Menschenhand war, die Pest
hingegen nicht. Was sollte sie tun? Sie konnte nicht ruhig dasitzen und zusehen,
wie das Geschehen von vor dreizehn Jahren sich auf grausame Weise wiederholte.
Es gab kein
Heilmittel gegen die Pest, doch Caris hatte Methoden entdeckt, um den
mörderischen Vormarsch der Seuche einzudämmen.
Während ihr Pferd
der alten Straße durch den Wald folgte, überlegte sie, was sie über die Pest
und deren Bekämpfung wusste. Merthin schwieg. Er hatte ihre Stimmung bemerkt
und vermutlich erraten, was sie beschäftigte.
Als sie zu Hause
ankamen, erklärte sie ihm, was sie beabsichtigte. »Es wird Widerstand geben«,
warnte er sie. »Dein Plan ist drastisch. Wer beim letzten Mal keine Familie und
Freunde verloren hat, hält sich vielleicht für unverletzlich und sagt, dass du
es übertreibst.«
»Und da kannst du
mir helfen«, erwiderte sie.
»In dem Fall
empfehle ich, dass wir die möglichen Gegner deines Planes aufteilen und uns
getrennt mit ihnen befassen.«
»Einverstanden.«
»Du musst dir drei
Gruppen gewogen machen: den Rat, die Mönche und die Nonnen. Beginnen wir mit
dem Rat. Ich berufe eine Sitzung ein — und Philemon wird nicht hinzugebeten.«
Mittlerweile tagte
der Rat in der Tuchbörse, einem großen neuen Steingebäude an der Main Street.
Das Haus erlaubte den Händlern, auch bei schlechtem Wetter Geschäfte zu
betreiben. Bezahlt worden war es mit dem Gewinn aus dem Verkauf von
Kingsbridger Scharlach.
Doch ehe der Rat
zusammentrat, sprachen Caris und Merthin einzeln mit den führenden Mitgliedern,
um sich im Voraus ihrer Unterstützung zu versichern, eine Technik, die Merthin
schon seit Langem anwendete. Seine Devise lautete: »Berufe niemals eine Ratsversammlung
ein, ehe das Ergebnis bereits feststeht.« Der Rat hätte von Petronilla stammen
können.
Caris ging zu Madge
Webber.
Madge war wieder
verheiratet. Zur allgemeinen Belustigung hatte sie sich einen Dörfler
ausgesucht, der genauso gut aussah wie ihr erster Mann und fünfzehn Jahre
jünger war als sie. Er hieß Anselm und schien sie auf Händen zu tragen, obwohl
sie so füllig war wie immer und ihr graues Haar unter einer reichen Auswahl
exotischer Kappen verschwinden ließ. Noch überraschender war, dass sie in ihrem
Alter von weit über vierzig noch einmal empfangen hatte und ein gesundes
kleines Mädchen zur Welt gebracht hatte, das Selma hieß, mittlerweile acht
Jahre alt war und die Nonnenschule besuchte. Die Mutterschaft hatte Madge noch
nie an der Arbeit gehindert, und so dominierte sie nach wie vor den Markt an
Kingsbridger Scharlach, während Anselm ihre rechte Hand war.
Sie wohnte noch
immer in dem großen Haus auf der Hauptstraße, in das sie mit Mark gezogen war,
nachdem das Weben und Färben den ersten Profit erbrachte. Caris traf auf sie
und Anselm, als sie gerade eine Lieferung
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