Die Tore der Welt
Anselm
und Selma zu Weihnachten noch bei dir hast.«
»Dann tun wir es«,
sagte Madge entschlossen.
»Deine Unterstützung
ist entscheidend«, sagte Caris. »Offen gesagt verlierst du durch die Absage des
Wollmarkts mehr Gewinn als irgendjemand sonst. Aus diesem Grund werden dir die
Leute am ehesten glauben. Du musst betonen, wie ernst die Lage ist.«
»Keine Sorge«,
sagte Madge. »Ich mache es ihnen schon klar.«
»Ein überaus
solider Vorschlag«, sagte Prior Philemon.
Merthin war
überrascht. Er konnte sich nicht erinnern, dass Philemon auch nur einmal
bereitwillig einem Vorschlag des Rates zugestimmt hatte. »Dann werdet Ihr ihn
unterstützen?«, fragte er, um sich zu vergewissern, dass er richtig gehört
hatte.
»Aber gewiss«,
erwiderte der Prior. Er aß eine Schüssel Rosinen, indem er sie sich händeweise
in den Mund stopfte, so rasch er kauen konnte. »Freilich«, fuhr er fort, »kann
die Regel nicht für Mönche gelten.«
Merthin seufzte. Er
hätte es ahnen sollen. »Im Gegenteil, sie gilt für jeden«, sagte er.
»Nein, nein«, sagte
Philemon im Ton eines Mannes, der ein Kind zurechtweist. »Der Rat besitzt nicht
die Macht, die Freizügigkeit von Mönchen einzuschränken.«
Merthin bemerkte
eine Katze zu Philemons Füßen. Wie er war das Tier fett und hatte ein gemeines
Gesicht. Sie sah genauso aus wie Godwyns Katze, Erzbischof, obwohl diese
Kreatur lange tot sein musste. Vielleicht war sie ein Nachkomme. Merthin sagte:
»Der Rat besitzt die Macht, die Tore zu schließen.«
»Aber wir haben das
Recht, zu kommen und zu gehen, wie wir wünschen. Wir unterliegen nicht dem
Geheiß des Rates — das wäre lächerlich.«
»Dennoch gebietet der Rat über die Stadt, und
wir haben beschlossen, dass niemand hereinkommt, solange die Pest grassiert.«
»Ihr könnt der Priorei keine Vorschriften auferlegen.« »Aber der Stadt, und die
Priorei befindet sich nun einmal in der Stadt.«
»Wollt Ihr mir
sagen, dass Ihr mir, wenn ich heute Kingsbridge verlasse, morgen den Einlass
verwehrt?«
Merthin war sich
nicht sicher. Es wäre zumindest höchst peinlich gewesen, wenn der Prior von
Kingsbridge vor dem Stadttor stand und Einlass begehrte. Er hatte gehofft,
Philemon vom Sinn der Beschränkung überzeugen zu können. In dieser dramatischen
Weise wollte
er die Entschlossenheit des Rates lieber nicht auf die Probe stellen. Dennoch
bemühte er sich um eine zuversichtliche Antwort.
»Durchaus.«
»Ich werde mich
beim Bischof beschweren.« »Sagt ihm aber gleich, dass er Kingsbridge nicht
betreten kann.«
Die Belegschaft des
Nonnenklosters hatte sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert. So war es
mit Nonnenklöstern: Es wurde erwartet, dass man blieb, bis Gott einen zu sich
rief. Mutter Joan war noch immer Priorin, und Schwester Oonagh führte das
Hospital unter der Aufsicht von Bruder Sime. Nur wenige Kranke kamen noch in
die Priorei, um sich versorgen zu lassen: Die meisten bevorzugten Caris‘
Hospital auf der Insel. Die wenigen Kranken, die sich an Sime wandten, waren
zum größten Teil sehr fromm und wurden im alten Hospital versorgt, gleich neben
der Küche, während das neue Gebäude Gästen vorbehalten blieb.
Caris setzte sich
mit Joan, Oonagh und Sime in der alten Apotheke zusammen, die nun der Priorin
als Büro diente, und erläuterte ihren Plan. »Wer außerhalb der Mauern der
Altstadt an der Pest erkrankt, kommt in mein Hospital auf der Insel«, sagte
sie. »Während die Seuche anhält, bleiben die Nonnen und ich Tag und Nacht im Gebäude.
Niemand verlässt es bis auf die wenigen Glücklichen, die wieder gesund werden.«
»Was geschieht hier
in der Altstadt?«, fragte Joan.
»Wenn die Pest
trotz unserer Vorkehrungen in die Stadt gelangt, gibt es vielleicht mehr Opfer,
als Ihr unterbringen könnt. Der Rat hat entschieden, dass Pestkranke und ihre
Familien in ihren Häusern bleiben müssen. Die Regel gilt für jeden, der in
einem Haus lebt, das von der Pest betroffen ist: Eltern, Kinder, Großeltern,
Gesinde, Lehrbuben. Wer dabei ertappt wird, wie er solch ein Haus verlässt,
kommt an den Galgen.«
»Das ist sehr
streng«, sagte Joan. »Aber wenn es das furchtbare Sterben wie bei der letzten
Seuche verhindert, dann wird es wohl so sein müssen.«
»Ich wusste, dass
Ihr es so sehen würdet.« Sime sagte kein Wort. Die Nachricht von der Pest hatte
ihn in seiner Arroganz offenbar ernüchtert.
Oonagh fragte: »Wie
sollen die
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