Die Tore der Welt
roten Tuchs entgegen nahmen und in
dem überfüllten Lagerraum im Erdgeschoss Platz dafür zu finden versuchten. »Ich
lege Vorräte für den Wollmarkt an«, erklärte Madge.
Caris wartete,
während Madge die Lieferung prüfte, dann ging sie mit ihr nach oben; den Laden
ließen sie in Anselms Obhut zurück. Als Caris in das Wohnzimmer trat, erinnerte
sie sich lebhaft an den Tag vor dreizehn Jahren, als sie hierher an das Krankenbett
von Mark gerufen worden war — dem ersten Kingsbridger Pestopfer.
Plötzlich überkam
sie eine tiefe Niedergeschlagenheit.
Madge bemerkte ihr
Gesicht. »Was hast du denn?«, fragte sie.
Vor Frauen konnte
man sich nicht so leicht verstellen wie vor Männern. »Vor dreizehn Jahren bin
ich hier hereingekommen, weil Mark krank war«, sagte Caris.
Madge nickte. »Das
war der Anfang der schlimmsten Zeit meines Lebens«, sagte sie mit nüchterner
Stimme. »An dem Tag hatte ich noch einen wunderbaren Mann und vier gesunde
Kinder. Drei Monate später war ich eine kinderlose Witwe mit nichts, wofür ich
leben konnte.«
»Traurige Tage«,
sagte Caris.
Madge ging zu der
Anrichte, wo Becher und ein Krug standen, doch anstatt Caris etwas zu trinken
anzubieten, starrte sie an die Wand. »Soll ich dir etwas Merkwürdiges sagen?«,
fragte sie. »Nachdem sie gestorben waren, konnte ich beim Paternoster nicht
mehr »Amen sagen.« Sie schluckte, und ihre Stimme wurde leiser. »Siehst du, ich
weiß, was der lateinische Text bedeutet. Mein Vater hat es mir erklärt.
›Fiat voluntas tua: Dein Wille geschehen‹ Ich konnte es nicht mehr
aussprechen. Gott hatte mir meine Familie genommen, und das war mir solch eine
Folter — ich wollte mich ihr nicht fügen.« Die Erinnerung trieb ihr die Tränen
in die Augen. »Ich wollte nicht, dass Gottes Wille geschieht, ich wollte meine
Kinder zurück. ›Dein Wille geschehen‹ Ich wusste, dass ich dafür in die
Hölle komme, aber trotzdem konnte ich nicht Amen sagen.«
»Die Pest ist
zurückgekehrt«, sagte Caris.
Madge taumelte und
hielt sich an der Anrichte fest. Ihre stämmige Gestalt wirkte plötzlich
gebrechlich, und als die Selbstsicherheit aus ihrem Gesicht wich, wirkte sie
alt. »Nein«, hauchte sie.
Caris zog eine Bank
vor und hielt Madge beim Arm, während sie sich darauf setzte. »Es tut mir leid,
wenn ich dir einen Schrecken einjage«, sagte sie.
»Nein«, sagte Madge
wieder. »Sie darf nicht wiederkommen. Ich will nicht Anselm und Selma
verlieren. Das kann ich nicht ertragen. Nicht noch einmal.« Sie wirkte so
bleich und bedrückt, dass Caris schon fürchtete, sie könnte einen Anfall
irgendeiner Art erleiden.
Caris goss Wein aus
dem Krug in einen Becher. Sie reichte ihn Madge, die ihn leerte, ohne es zu
bemerken. In ihr Gesicht kehrte ein wenig Farbe zurück.
»Wir wissen heute
mehr über die Pest«, sagte Caris. »Vielleicht können wir sie bekämpfen.«
»Sie bekämpfen? Wie
soll das gehen?« »Um dir das zu sagen, bin ich hier. Fühlst du dich ein wenig
besser?« Madge sah Caris endlich in die Augen. »Sie bekämpfen …«, sagte sie.
»Natürlich müssen wir das tun. Sag mir nur, wie.« »Wir müssen die Stadt
sperren. Alle Tore schließen, die Wälle bemannen und verhindern, dass irgend
jemand hereinkommt.« »Aber die Stadt muss essen.«
»Auf Leper Island
werden Vorräte geliefert. Merthin wird als Mittelsmann fungieren und sie
bezahlen — er hat die Pest beim letzten Mal bekommen und überlebt, und niemand
hat sich je zweimal angesteckt. Die Händler werden ihre Waren auf der Brücke
lassen. Wenn sie wieder fort sind, kommen Leute von der Stadt und holen die
Lebensmittel.«
»Könnte jemand die
Stadt verlassen?« »Ja, aber er dürfte nicht zurückkehren.« »Was ist mit dem
Wollmarkt?«
»Das ist das Schwierige«,
sagte Caris. »Er muss abgesagt werden.« »Aber dann verlieren die Kingsbridger
Kaufleute Hunderte von Pfund an Umsatz!« »Besser als ihr Leben.«
»Wenn wir deine
Vorschläge annehmen, werden wir der Pest dann entrinnen? Wird meine Familie
überleben?«
Caris zögerte und
widerstand der Versuchung, eine beruhigende Lüge auszusprechen. »Ich kann
nichts versprechen«, sagte sie. »Die Pest kann uns schon erreicht haben. In
einer Kate am Flussufer könnte schon jemand im Sterben liegen, ohne dass es
irgendwer weiß. Deshalb fürchte ich, dass wir vielleicht nicht vollkommen verschont
bleiben. Ich glaube aber, mein Plan bietet die größte Aussicht, dass du
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