Die Tore der Welt
In Oxford hatte er gelernt, sein Argument, wann immer
möglich, in eine Frage zu kleiden, die einem Kontrahenten kaum mehr Spielraum
für eine Gegenrede ließ.
Der Erste, der
antwortete, war der blinde Carlus, der Subprior, Anthonys Stellvertreter. »Einige
Klöster liegen fernab jeder menschlichen Ansiedlung, auf einer unbewohnten
Insel, tief im Wald oder hoch auf einem Berggipfel«, begann er. Seine langsame
Sprache und die wohlbedachte Wortwahl weckten Godwyns Ungeduld. »In solchen
Häusern halten die Brüder sich von jeglichem Kontakt mit der Außenwelt fern«,
fuhr Carlus ohne Eile fort.
»Kingsbridge war
nie ein solcher Ort. Wir befinden uns im Herzen einer großen Stadt, die
siebentausend Seelen beheimatet. Uns ist eine der prächtigsten Kathedralen der
Christenheit anvertraut.
Viele von uns sind
Ärzte, denn der heilige Benedikt hat gesagt:
»Den Kranken soll
besondere Fürsorge gelten, denn wahrlich sollen sie umsorgt werden, als wären
sie Christus selbst. Der Luxus vollkommener Abgeschiedenheit ist uns nicht
gegeben. Gott hat uns eine andere Aufgabe zugedacht.«
Godwyn hatte so
etwas erwartet. Carlus hasste es, wenn Möbel verrückt wurden, denn dann
stolperte er darüber. Tatsächlich widersetzte er sich jeder Veränderung, da er
Angst vor dem Neuen hatte.
Theodoric hatte
rasch eine Antwort für Carlus bereit. »Umso mehr ist es unser Gebot, dass wir
uns streng an die Regeln halten«, sagte er. »Ein Mann, der neben einer Schänke
wohnt, muss sich ja auch besonders vor Trunkenheit hüten.«
Zustimmendes Raunen
ging durchs Kapitel: Den Brüdern gefielen kluge Antworten. Godwyn nickte
Theodoric anerkennend zu. Der hellhäutige Mönch errötete dankbar.
Kühn geworden,
flüsterte ein Novize mit Namen Juley laut:
»Frauen kümmern
Carlus nicht, denn er kann sie ja nicht sehen.«
Mehrere Mönche
lachten, doch andere schüttelten missbilligend die Köpfe.
Godwyn hatte das
Gefühl, dass es gut für ihn lief. Bis jetzt hatte er den Disput für sich
entschieden. Dann sagte Prior Anthony: »Was genau schlägst du vor, Bruder
Godwyn?« Anthony hatte nicht in Oxford studiert, doch er wusste genug über die
Debattierkunst, um seinen Gegner unter Druck zu setzen.
Widerwillig legte
Godwyn die Karten auf den Tisch. »Wir sollten darüber nachdenken, wieder zu jenem
Status zurückzukehren, wie er zu Zeiten Prior Philips geherrscht hat.«
Anthony hakte nach:
»Was genau meinst du damit? Keine Nonnen?« »Ja.«
»Aber wo sollen sie
hin?«
»Das Nonnenkloster
könnte an einen anderen Ort verlegt und zu einer Zelle des Klosters werden, wie
Kingsbridge College oder St.-John-in-the-Forest.«
Das erschreckte die
Mönche. Ein Raunen erhob sich, das der Prior nur mit Mühe wieder einzudämmen
vermochte. Die Stimme, die den Tumult übertönte, war die von Joseph, dem
obersten Arzt. Joseph war ein kluger Mann, aber stolz, und Godwyn stand ihm misstrauisch
gegenüber. »Wie sollen wir ein Hospital ohne Nonnen führen?«, fragte er. Seiner
schlechten Zähne wegen verschluckte er immer wieder Silben, sodass er wie ein
Betrunkener klang. Dennoch sprach er mit Autorität. »Sie verabreichen Medizin,
wechseln Verbände, füttern die Behinderten und kämmen das Haar seniler alter
Männer … «
Theodoric sagte:
»Das alles können Mönche auch.« »Und was ist mit Geburtshilfe?«, entgegnete
Joseph. »Wir haben es oft mit Frauen zu tun, die Schwierigkeiten haben, ein
Kind auf die Welt zu bringen. Wie sollen Mönche ihnen beistehen, ohne dass
Nonnen die… die eigentliche Handarbeit erledigen?« Mehrere Männer bekundeten ihre
Zustimmung, doch Godwyn hatte mit dieser Frage gerechnet, und nun sagte er:
»Nehmen wir einmal an, die Nonnen würden ins alte Lazarushaus ziehen.«
Die Kolonie der
Aussätzigen — das sogenannte Lazarushaus — lag auf einer kleinen Insel im Fluss
am Südende der Stadt. In alter Zeit war es voller Kranker gewesen, doch die
Lepra schien auszusterben, und nun hatte es nur noch zwei Bewohner, beide alt
und schwach.
Bruder Cuthbert,
ein geistreicher Mensch, murmelte: »Ich möchte nicht derjenige sein, der Mutter
Cecilia erklärt, sie müsse in eine Leprakolonie umziehen.« Lachen ging durch
das Kapitel.
»Frauen sollten den
Männern Untertan sein«, erklärte Theodoric.
Prior Anthony
erwiderte: »Und Mutter Cecilia ist Bischof Richard Untertan. Eine solche
Entscheidung müsste er treffen.«
»Das verhüte Gott«,
sagte eine neue
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