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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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immer gesagt hast«, beendete er seine Ausführungen. Tatsächlich hatte
Theodoric nie eine Meinung zu diesem Thema geäußert, hatte aber stets
zugestimmt, wann immer Godwyn sich über die Nachlässigkeit von Prior Anthony
beschwert hatte.
    »Natürlich«, sagte
Theodoric. Er hatte blaue Augen und helle Haut, und nun errötete er vor
Aufregung. »Wie sollen wir reine Gedanken hegen, wenn das Weibervolk uns
immerzu ablenkt?«
    »Aber was können
wir dagegen tun?«
    »Wir müssen uns dem
Prior entgegenstellen.« »Im Kapitel, meinst du?«, sagte Godwyn, als wäre es
Theodorics Idee gewesen und nicht seine. »Ja, da hast du recht. Aber würden
andere uns unterstützen?« »Die jüngeren Mönche sicherlich.«
    Junge Männer
stimmten vermutlich jeder Kritik an älteren mehr oder weniger zu, dachte
Godwyn. Aber er wusste auch, dass viele Mönche seine Liebe zu einem Leben
teilten, in dem es keine Frauen gab oder wo sie zumindest unsichtbar waren.
»Falls du vor dem Kapitel mit jemandem reden solltest, lass mich wissen, was
sie sagen«, sagte er. Das würde Theodoric ermutigen, um Unterstützung für ihre
Position zu werben.
    Das Essen wurde
aufgetischt: Eintopf aus Pökelfisch und Bohnen.
    Doch Friar Murdo
hielt Godwyn vom Essen ab.
    Friars oder
Bettelmönche waren Brüder, die im  Volk lebten, anstatt sich in einem Kloster
abzuschotten. Sie hielten ihre Selbstverleugnung für weit strenger als die der
Klostermönche, denn das Armutsgelübde klösterlicher Brüder wurde oft von ihren
prachtvollen Gebäuden und ihrem extensiven Landbesitz ad absurdum geführt.
Traditionell besaßen Bettelmönche überhaupt kein Eigentum, ja, nicht einmal
eigene Kirchen — auch wenn viele von diesem Ideal abließen, wenn fromme Gönner
sie mit Land und Geld ausstatteten.
    Jene, die noch
immer den ursprünglichen Prinzipien anhingen, bettelten um Essen und schliefen
auf Küchenböden. Sie predigten auf Marktplätzen und vor Schänken und erhielten
dafür Pennys als Lohn. Auch zögerten sie nicht, gewöhnliche Mönche um Essen und
Unterkunft anzugehen, wann immer es ihnen gelegen kam. So war es wenig
überraschend, dass man ihrem Dünkel mit Missfallen begegnete.
    Friar Murdo war ein
besonders unangenehmes Exemplar seiner Gattung: fett, schmutzig, gierig, oft
betrunken, und manchmal sah man ihn sogar in Gesellschaft von Huren. Aber er
war auch ein charismatischer Prediger, der Hunderte mit seinen flammenden, wenn
auch theologisch fragwürdigen Predigten in Bann schlagen konnte.
    Nun stand er
unaufgefordert auf und betete mit lauter Stimme:
    »O Vater im Himmel, segne diese Speisen für
unseren verdorbenen Leib, der so voller Sünden ist wie ein toter Hund voller
Maden … «
    Murdos Gebete waren
immer ziemlich ausufernd. Seufzend legte Godwyn den Löffel beiseite.
     
    Im Kapitel wurde
stets vorgelesen — üblicherweise aus der Regel des heiligen Benedikt, doch oft
auch aus der Bibel und gelegentlich aus anderen religiösen Werken. Während die
Mönche ihre Plätze auf den terrassenförmigen Steinbänken im achteckigen
Kapitelhaus einnahmen, ging Godwyn zu dem jungen Mönch, der an diesem Tag
vorlesen sollte, und erklärte ihm sanft, aber nachdrücklich, dass er, Godwyn,
heute an seiner statt vorlesen würde. Als dann der Augenblick kam, las er die
entscheidende Stelle aus Timothys Buch.
    Godwyn war
innerlich angespannt. Vor einem Jahr war er aus Oxford zurückgekehrt, und
seitdem hatte er in ruhigen Stunden immer wieder in vertrautem Kreis über eine
Reform der Priorei gesprochen; doch bis zu diesem Augenblick hatte er sich
nicht offen gegen Prior Anthony gestellt. Der Prior war schwach und träge, und
nur ein Schock vermochte ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Außerdem hatte der
heilige Benedikt geschrieben: »Alle sollen ins Kapitel gerufen werden, denn der
Herr enthüllt oft einem Jüngeren, was am besten ist.« Godwyn hatte alles Recht,
im Kapitel das Wort zu ergreifen und eine strengere Beachtung der Klosterregel
einzufordern. Trotzdem hatte er plötzlich das Gefühl, dass er ein zu großes
Wagnis eingegangen war, und er wünschte sich, er hätte sich mehr Zeit genommen,
um über den Einsatz von Timothys Buch nachzudenken.
    Doch nun war es zu
spät für Reue. Godwyn klappte das Buch zu und sagte: »Meine Frage an mich
selbst und meine Brüder lautet:
    Sind wir unter
jenen Stand herabgesunken, den Prior Philip einst für die Trennung von Mönchen
und Frauen gesetzt hat?«

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