Die Tore der Welt
Stimme. Sie gehörte Simeon, dem Schatzmeister. Simeon war ein
dünner Mann mit langem Gesicht, und er sprach sich gegen jeden Vorschlag aus,
der Geld kostete. »Ohne die Nonnen könnten wir nicht überleben«, erklärte er.
Godwyn war
überrascht. »Wieso?«, fragte er.
»Wir haben nicht
genug Geld«, antwortete Simeon rund heraus.
»Wer, glaubst du
denn, bezahlt die Handwerker, wenn die Kathedrale instand gesetzt werden muss?
Wir nicht. Wir können es uns nicht leisten. Mutter Cecilia bezahlt! Sie kauft
Vorräte für das Hospital, Pergament für das Scriptorium und Futter für die
Ställe.
Alles, was Mönche
und Nonnen gemeinsam benutzen, zahlt sie.«
Godwyn war
bestürzt. »Wie kann das sein? Warum sind wir von ihnen abhängig?«
Simeon zuckte mit
den Schultern. »Im Laufe der Jahre haben viele fromme Frauen den Nonnen ihr
Land und ihre Besitztümer vermacht.«
Das war nicht die
ganze Geschichte; dessen war Godwyn sicher.
Auch die Mönche
hatten ergiebige Geldquellen. Sie bekamen Pacht, Zoll, Zins und den Zehnten;
fast jeder Einwohner von Kingsbridge zahlte irgendeine Gebühr an sie. Obendrein
besaßen sie Tausende Morgen Ackerland. Die Art, wie der Reichtum verwaltet
wurde, musste ebenfalls eine Rolle spielen. Doch es war sinnlos, jetzt näher
darauf einzugehen. Godwyn hatte die Debatte verloren.
Selbst Theodoric
schwieg.
Anthony sagte
beschwichtigend: »Nun, das war ein äußerst interessanter Disput. Danke, Godwyn,
dass du die Frage gestellt hast. Und nun lasst uns beten.«
Godwyn war viel zu
wütend zum Beten. Er hatte nichts von dem bekommen, was er wollte, und er
wusste nicht einmal, wo er den Fehler gemacht hatte.
Als die Mönche
hinauszogen, warf Theodoric ihm einen ängstlichen Blick zu und sagte: »Ich
wusste gar nicht, dass die Nonnen so vielbezahlen.«
»Das hat keiner von
uns gewusst«, erwiderte Godwyn. Er bemerkte, dass er Theodoric anfunkelte, was
er rasch wiedergutmachte, indem er hinzufügte: »Aber du hast dich wacker geschlagen.
Du hast besser debattiert als so mancher Oxford-Studiosus.«
Das waren genau die
richtigen Worte gewesen, und Theodoric schaute ihn glücklich an.
Nun war für die
Mönche die Stunde gekommen, die Bibliothek aufzusuchen oder durch den Kreuzgang
zu wandeln und sich in frommer Meditation zu ergehen, doch Godwyn hatte andere
Pläne.
Schon während des
Essens und dann das ganze Kapitel hindurch hatte ihm eine Sache zu schaffen
gemacht. Er hatte sie in einen dunklen Winkel seines Verstandes geschoben, denn
es hatte Wichtigeres gegeben, doch nun kehrte sie wieder zurück: Godwyn glaubte
zu wissen, wo Lady Philippas Armreif war.
Es gab nur wenige
Verstecke im Kloster. Die Mönche lebten als Gemeinschaft; mit Ausnahme des
Priors hatte niemand ein eigenes Gemach. Selbst in der Latrine saßen die Brüder
Seite an Seite über einem Trog, der ständig mit Wasser aus einer Rohrleitung
durchgespült wurde. Persönlicher Besitz war ihnen untersagt, und so hatte
niemand einen Schrank oder auch nur eine Kiste.
Doch heute hatte
Godwyn ein Versteck gesehen.
Er stieg hinauf ins
Dormitorium. Es war leer. Godwyn schob den Schrank von der Wand und zog den
losen Stein heraus, schaute aber nicht durchs Loch. Stattdessen steckte er die
Hand in den Spalt und tastete herum. Er fühlte oben, unten und an den Seiten.
Rechts gab es einen kleinen Riss im Stein. Godwyn schob seine Finger hinein und
berührte etwas, das weder Stein noch Mörtel war. Er zupfte den Gegenstand mit
den Fingerspitzen zu sich und zog ihn heraus.
Es war ein
geschnitzter Armreif.
Godwyn hielt ihn
ins Licht. Er war aus hartem Holz gemacht, vermutlich aus Eiche. Die Innenseite
war glatt poliert, doch die Außenseite war mit ineinander verwobenen Mustern
aus Quadraten und Diagonalen verziert, alles mit äußerster Präzision. Godwyn erkannte
auf Anhieb, warum Lady Philippa den Armreif so sehr mochte.
Er steckte ihn
wieder zurück, drückte den Stein hinein und schob den Schrank wieder davor.
Was wollte Philemon
mit so etwas? Vielleicht würde er den Reif für ein, zwei Pennys verkaufen
können, aber das war gefährlich, da er sehr leicht wiederzuerkennen war. Aber
auf jeden Fall konnte er den Reif nicht tragen.
Godwyn verließ das
Dormitorium und stieg die Treppe zum Kreuzgang hinunter. Er war nicht in der
Stimmung zum Studieren oder Meditieren. Er musste mit jemandem über die
Ereignisse des Tages reden, und so verspürte er das Bedürfnis, mit
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