Die Tore der Welt
Warnrufen und Angstschreien
unter.
Merthin stieß
hervor: »O nein!«
Caris schrie: »Was
geschieht da?«
Hier sterben
Menschen, hätte Merthin am liebsten zurückgerufen, hätte es ihm nicht die
Stimme verschlagen. Leute, mit denen sie aufgewachsen waren; Frauen, die
freundlich zu ihnen waren; Männer, von denen sie gehasst, und Kinder, von denen
sie bewundert wurden; Mütter und Söhne, Onkel und Nichten, grausame Herren,
eingeschworene Feinde und glutvolle Liebhaber … Sie alle würden sterben. Doch
Merthin brachte keinen Ton heraus.
Einen Augenblick
lang — kürzer als ein Atemzug — hoffte er, die Konstruktion würde sich
als stark genug erweisen, dass sie zumindest hielt, bis die Leute sich in
Sicherheit gebracht hatten, doch er wurde enttäuscht. Die Brücke sackte erneut
durch, und diesmal rissen die Balken an den Verbindungsstellen. Die Querbalken,
auf denen die Menschen standen, sprangen aus ihren Holzklammern; die
Stützbalken der Straßenbettung wanden sich aus ihren Halterungen, und die
Eisenkrampen, die Elfric über die Risse und Spalten genagelt hatte, wurden aus
dem Holz gerissen.
Der Mittelteil der
Brücke kippte in Merthins Richtung ab, flussaufwärts. Der Wollkarren neigte
sich zur Seite, und die Zuschauer, die sich einen Platz auf den Wollsäcken
gesucht hatten, wurden in den Fluss geschleudert. Große Balken splitterten,
flogen durch die Luft und erschlugen jeden, den sie trafen.
Die unzureichende Brüstung gab nach, und der Wagen rutschte langsam über den
Rand; die hilflosen Ochsen muhten in Panik. Der Wagen fiel mit albtraumhafter
Langsamkeit durch die Luft und schlug mit lautem Klatschen auf dem Wasser auf.
Plötzlich sprangen oder fielen Dutzende Menschen in den Fluss, dann immer mehr.
Wer bereits im Wasser war, wurde von den Fallenden oder von herabstürzendem
Holz getroffen. Pferde fielen mit und ohne Reiter; krachend und berstend kippten
Karren über den Brückenrand und rutschten in die Tiefe.
Merthins erster
banger Gedanke galt seinen Eltern. Doch weder Vater noch Mutter waren beim Prozess
gegen Neil erschienen, und die Vollstreckung des Urteils hatten sie sich ganz
sicher nicht anschauen wollen: Mutter betrachtete solch öffentliche Spektakel
als unter ihrer Würde, und Vater war an dergleichen nicht interessiert, wenn
bloß das Leben einer verrückten Frau auf dem Spiel stand.
Stattdessen waren
sie in die Priorei gegangen, um sich von Ralph zu verabschieden.
Aber Ralph war auf
der Brücke.
Merthin konnte
sehen, wie sein Bruder darum kämpfte, sein Pferd unter Kontrolle zu behalten.
Griff stieg und wirbelte mit den Vorderbeinen. »Ralph!«, schrie Merthin
unwillkürlich. Dann klatschten die Bohlen unter Griffs Hufen ins Wasser.
»Nein!«, rief Merthin, als Pferd und Reiter aus seinem Blickfeld verschwanden.
Merthin sah zum
anderen Ende der Brücke, wo Caris Gwenda entdeckt hatte; er sah, dass sie mit
einem Mann in gelbem Kittel kämpfte. Dann gab auch dieser Teil der Brücke nach,
und beide Enden der Konstruktion wurden vom zusammenbrechenden Mittelteil ins
Wasser gezogen.
Der Fluss war nun
ein einziges Gewimmel von sich windenden Menschen, panischen Pferden,
zersplitterten Balken, zerschlagenen Karren und blutenden Leibern. Merthin
bemerkte, dass Caris nicht mehr an seiner Seite war. Er sah sie am Ufer entlang
zur Brücke laufen. Sie blickte über die Schulter und rief: »Beeil dich! Worauf
wartest du? Komm und hilf!«
So muss es auf dem
Schlachtfeld sein, schoss es Ralph durch den Kopf: das Schreien, Krachen und
Bersten, die rücksichtslose Gewalt, die stürzenden Menschen, die vor Angst
wahnsinnigen Pferde … Das war sein letzter Gedanke, bevor der Boden unter ihm
nachgab.
Einen Augenblick
lang war Ralph von blankem Entsetzen erfüllt.
Er verstand nicht,
was geschah. Die Brücke war eben noch da gewesen, unter den Hufen seines
Pferdes, fest und sicher wie eh und je — und mit einem Mal gab es sie nicht
mehr, und er und sein Tier flogen durch die Luft. Ralph spürte Griffs vertraute
Masse nicht mehr zwischen den Schenkeln, und er erkannte, dass sie voneinander
getrennt worden waren. Einen Moment später schlug er im kalten Wasser auf.
Ralph ging unter
und hielt die Luft an. Angst überkam ihn, so sehr zerrten seine dicken
Reisekleider und das Schwert ihn in die Tiefe. Hätte er eine Rüstung getragen,
wäre er auf den Grund gesunken und für immer dort geblieben. Doch er war als
Junge viel
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