Die Tore der Welt
ihn zu tätscheln, und er wedelte freudig mit dem Schwanz
und leckte ihr die Hände. Gwenda traten die Tränen in die Augen.
Sim war nirgends zu
sehen, und so wagte sie es, auf die offene Straße zurückzukehren. Müde nahm sie
ihren alten Rhythmus wieder auf — zwanzig Schritte laufen, zwanzig Schritte
gehen —, doch nun trottete Skip fröhlich neben ihr her; er hielt das alles für
ein neues Spiel. Jedes Mal, wenn Gwenda die Geschwindigkeit änderte, warf sie
einen Blick über die Schulter. Beim dritten Mal sah sie Sim.
Er war nur ein paar
hundert Schritte hinter ihr.
Verzweiflung
brandete über Gwenda hinweg. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden gelegt
und wäre gestorben. Aber sie war jetzt schon fast in der Vorstadt, und die Brücke
befand sich nur eine Viertelmeile entfernt!
Sie zwang sich
weiter zu laufen und versuchte, schneller zu rennen, doch ihre Beine weigerten
sich, ihren Befehlen zu gehorchen.
Statt zu rennen,
stolperte sie unbeholfen voran. Ihre Füße schmerzten. Als sie hinunterblickte,
sah sie Blut aus den Löchern ihrer zerschlissenen Schuhe hervorquellen.
Schließlich gelangte sie an Gallows Cross und sah eine riesige Menschenmenge
auf der Brücke vor sich. Doch alle schauten gebannt auf irgend etwas; niemand
bemerkte, dass Gwenda um ihr Leben lief, Sim Chapman dicht auf den Fersen.
Gwenda hatte
keinerlei Waffen außer ihrem Essmesser, mit dem man sich vielleicht ein Stück
Käse abschneiden, aber keinen Mann kampfunfähig machen konnte. Sie wünschte
sich sehnlichst, sie hätte die Überwindung aufgebracht, Alwyns langen Dolch aus
dessen Kopf zu ziehen und mitzunehmen. Nun aber war sie praktisch wehrlos.
Auf einer Seite der
Straße befand sich eine Reihe kleiner Häuser, in denen Menschen wohnten, die zu
arm waren, um in der Stadt zu leben; auf der anderen Seite war eine Weide, die
man Lovers‘ Field nannte und die der Priorei gehörte. Sim war nun so dicht
hinter Gwenda, dass sie ihn keuchen hören konnte. Die Angst verlieh Gwenda noch
einmal Kraft. Skip bellte, doch in seiner Stimme lag mehr Furcht als Trotz: Er
hatte den Stein nicht vergessen, der ihn auf die Nase getroffen hatte.
Die Zufahrt zur
Brücke war der reinste Sumpf, aufgewühlt von Stiefeln, Hufen und Wagenrädern.
Gwenda watete hindurch und hoffte verzweifelt, dass ihr schwergewichtiger
Verfolger mehr von dem Schlamm behindert wurde als sie.
Schließlich
erreichte Gwenda die Brücke. Sie drängte sich in die Menge, die auf dieser
Seite der Brücke nicht ganz so dicht war. Alle schauten sie in die andere
Richtung, wo ein schwerer Wollwagen einem Ochsenkarren den Weg versperrte.
Gwenda musste zu Caris‘ Haus an der Main Street, das sie nun fast schon sehen
konnte.
»Lasst mich
durch!«, rief sie und kämpfte sich weiter vorwärts.
Nur eine Person
schien sie zu hören. Ein Kopf drehte sich zu ihr um, und sie sah das Gesicht
ihres Bruders Philemon. Ein Ausdruck der Besorgnis erschien auf seinem Gesicht;
er versuchte, sich zu seiner Schwester durchzukämpfen, doch die Menge machte es
ihm unmöglich.
Gwenda versuchte,
sich an den Ochsen vor dem Wollwagen vorbeizuschieben, doch eines der Tiere
wedelte mit dem riesigen Kopf und warf sie zur Seite. Sie verlor das
Gleichgewicht… und in diesem Augenblick packte eine große Hand ihren Arm, und
Gwenda wusste, dass sie wieder gefangen war.
»Ha… Hab ich
dich, du Hexe«, keuchte Sim. Er zog sie zu sich und schlug ihr so fest ins
Gesicht, wie er konnte. Gwenda hatte keine Kraft mehr, sich ihm zu widersetzen.
Skip schnappte erfolglos nach Sims Waden. »Du wirst mir nicht mehr entkommen!«,
stieß Sim hervor.
Furcht und
Verzweiflung erfassten Gwenda. Alles war umsonst gewesen: dass sie Alwyn
verführt und ermordet hatte und dass sie so viele Meilen weit gelaufen war. Sie
war wieder Sims Gefangene.
Fingen all die
Schrecken jetzt wieder von vorn an?
Unter ihren Füßen
schwankte die Brücke.
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KAPITEL 13
Merthin sah, wie
die Brücke sich durchbog.
Über den mittleren
Strompfeilern der flussaufwärts gelegenen Seite sackte die gesamte
Straßenbettung durch wie ein Pferd mit gebrochenem Rücken. Die Leute, die Neil
quälten, mussten plötzlich feststellen, dass der Boden unter ihnen nachgab. Sie
taumelten und klammerten sich an ihren Nachbarn fest. Einer fiel rückwärts über
die Brüstung in den Fluss, dann noch einer und noch einer. Die Rufe und Pfiffe,
die gegen Neil gerichtet waren, gingen rasch in
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