Die Tore des Himmels
So lebendig, dass Ihr auch mich wieder zum Leben erweckt.«
Sein Finger glitt ihren Hals hinab. Sie hielt still, beinahe andächtig spürte sie seiner Berührung nach.
Und dann küsste er sie.
Alles hatte er erwartet, nur nicht die Leidenschaft, mit der sie seinen Kuss erwiderte. Es dauerte lange, bis sie sich atemlos voneinander lösten.
»Darauf habe ich gewartet, seit ich ein kleines Mädchen war«, sagte sie und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn.
Er lachte. »Und ich Narr habe mir so lange Zeit gelassen. Komm her.« Er küsste sie noch einmal. Dann hörten sie eine Stimme vom Haus her. »Gisa? Bist du da draußen?«
Es war Isentrud.
»Ich muss hinein«, flüsterte Gisa und rannte los.
Raimund erwachte, als die Tür knarrend aufging. Im Dunkeln konnte er nichts sehen, aber er hörte das leise Tappen von Füßen. Es war ihr Schritt. Ein leises Rascheln von zu Boden gleitendem Stoff.
Dann war sie bei ihm. Ihr Körper war warm und fest und roch nach süßem Honig. Er spürte ihre Lippen auf seiner Haut und erschauerte. »Willst du das wirklich?«, fragte er heiser.
Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre nackte Brust. »Haben wir nicht schon genug Zeit verloren?«
Er zog sie an sich. »Dann lass uns heute Nacht alles nachholen, was wir je versäumt haben.«
Als er bei Sonnenaufgang aufwachte, war sie fort. Raimund war körperlich müde, aber er spürte eine innere Kraft, eine Zukunftsfreude, die er längst verloren geglaubt hatte. Jetzt konnte ihn nicht einmal mehr der Gedanke an Ludwigs Tod wirklich betrüben. Als er zusammen mit den Frauen den Herzogshof verließ, um zur Dombaustelle zu gehen, zwinkerte ihm Gisa heimlich zu. Er hatte nicht geträumt! Er lächelte zurück, doch dieses Lächeln wich sofort, als er Elisabeth im Dom vor Ludwigs Gebeinen knien sah. Die Zeremonie begann.
Noch am selben Tag brachen Raimund und die Thüringer Ritter auf. Der Landgraf sollte in der ludowingischen Grablege Reinhardsbrunn bestattet werden, wie es der Brauch war. An der Spitze des traurigen Zuges ritten Elisabeth und ihre Zofen. Die Beisetzung konnte schließlich nicht ohne die Witwe stattfinden.
Wie würde Heinrich Raspe sie empfangen?
Gebet Elisabeths von Thüringen bei der Weisung
der Gebeine ihres toten Gatten, aus der
Erinnerung Isentruds zitiert im »Libellus
de dictis quattuor ancillarum«
»Herr, ich danke dir, dass du mir mit den so ersehnten Gebeinen meines Gatten barmherzig zum Tröster geworden bist. Du weißt: So sehr ich ihn auch liebte, ich will ihn, den Geliebtesten, dir nicht neiden. Er hat sich auf seinen und meinen Wunsch zum Schutz des Heiligen Landes geopfert. Könnte ich ihn wiederhaben, so wollte ich ihn gegen die ganze Welt eintauschen, selbst wenn ich mit ihm betteln gehen müsste. Aber gegen deinen Willen möchte ich ihn – dafür bist du Zeuge – nicht um ein einziges Haar zurückkaufen. Nun empfehle ich ihn und mich deiner Gnade. An uns geschehe dein Wille.«
Gisa
I ch war glücklich wie noch nie in meinem Leben! Die Liebe meiner Kindertage, der Mann, von dem ich immer geträumt hatte, gehörte endlich mir! Am liebsten hätte ich gesungen und gejauchzt, getanzt und gelacht – stattdessen ritt ich mit Elisabeth, Guda und Isentrud an der Spitze des Trauerzugs hinter dem Katafalk.
In der Woche, die wir bis nach Thüringen brauchten, hatte ich viel Gelegenheit zum Nachdenken. Mein Ritter hielt sich bei den Männern auf, nur manchmal erhaschte ich einen liebevollen Blick von ihm oder konnte ihm von fern zuwinken. Noch in der ersten Nacht hatte er mich gefragt, ob ich seine Frau werden wollte. Fast hätte ich mein Ja herausgeschrien.
Nun aber begann mich mein Gewissen zu plagen. Bis jetzt hatte ich das Versprechen gehalten, das ich Elisabeth als Kind gegeben hatte. Doch unsere gemeinsame Zeit würde vorbei sein, wenn ich Raimund heiratete. Denn in ihrem Leben, ganz gleich wie es in Zukunft aussehen würde, war kein Platz für eine verheiratete Frau. Ich würde nicht bei ihr bleiben können. Dennoch – ich hatte meine Wahl längst getroffen. Ich wollte zu Raimund gehören, wollte Kinder, wollte ein eigenes Leben. Ich liebte Raimund. Elisabeth dagegen war mir in den letzten Jahren und Monaten immer fremder geworden. Dass sie bis auf das Jüngste ihre Kinder hergegeben hatte, konnte ich nicht begreifen. Auch ihre Rücksichtslosigkeit uns Zofen gegenüber machte mich zornig. Kein einziges Mal wurden wir gefragt, sie traf ihre Entscheidungen alleine, aber wir
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