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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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reite durchs Nikolaitor in die Stadt ein.
    Als ich in unsere Gasse einbiege, kriege ich gleich so ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ich öffne die Tür zu unserem Schweinestall; es riecht nach Räucherwerk, nach Krankenkräutern. Miriam stürzt mir entgegen und fällt mir um den Hals. Aber sie lacht nicht, sie weint. »Um Gottes willen, was ist los?«, frage ich. Sie deutet nach drinnen auf die Bettstatt.
    Ach, und da liegt die Mutter. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Brust hebt und senkt sich mühsam. Ihr Gesicht ist das einer Greisin, die Haut hat einen bläulichen Schatten. So sieht ein Mensch aus, wenn der Tod ihm schon das Zeichen aufgedrückt hat.
    Ich setze mich auf den Rand der Bettstatt. Mutters Hand liegt wie ein welkes Blatt auf der löchrigen Decke. Ich streichle sie vorsichtig. »Mutter«, sage ich, »ich bin’s, Primus. Hörst du mich?«
    Sie schlägt die Augen auf, ihre Finger verschlingen sich mit meinen. »Mein Großer«, flüstert sie so leise, dass ich es kaum verstehen kann. »Der Herrgott holt mich zu sich.«
    Ich muss weinen, meine Tränen tropfen auf ihren nackten Arm. »Nicht traurig sein«, sagt sie. »Schau, ich geh zum Michel, der wartet schon lang auf mich.« Ein Hustenkrampf schüttelt sie; sie drückt sich einen Lumpen vor den Mund, und als sie ihn wegnimmt, ist er voller Blut.
    »Ich hab ein bisschen Geld«, sage ich verzweifelt, »ich lauf ganz schnell zum Doktor und hole neue Medizin.«
    Sie lächelt und schüttelt den Kopf. »Lass«, flüstert sie. »Mir hilft niemand mehr. Es ist nicht schlimm, Primus, ich hab keine Schmerzen. Wir müssen alle gehen, wenn unsere Zeit gekommen ist.« Wieder hustet sie. Diesmal kommt ein ganzer Schwall Blut. Ich gebe Miriam ein Zeichen, dass sie mit dem Hannolein und der Irmel hinausgehen soll. Sie sollen das nicht sehen.
    »Mutter«, sage ich, »soll ich den Priester holen?«
    Wieder schüttelt sie den Kopf. »Keine … Zeit.«
    Mir laufen die Tränen nur so über die Backen. Ihre Lippen bewegen sich. Ich beuge mich ganz nah zu ihr herunter, um zu verstehen. »Der kleine Michel … versprich mir … du und Miriam … sorgt für … ihn.«
    »Ich versprech’s«, sage ich. »Wir ziehen ihn groß. Er soll’s gut haben bei uns.«
    Sie schließt die Augen. Jeder ihrer mühsamen Atemzüge tut mir weh. Ich wische einen Blutstropfen weg, der aus ihrem Mundwinkel dringt. Miriam steht hinter mir und hat die Hände auf meinen Schultern. Sie hält mich ganz fest. Auf der anderen Seite des Lagers sitzt Ida und weint.
    Und dann hebt die Mutter den Kopf und schaut an Ida vorbei zum rechten Fußende des Lagers, als ob sie dort etwas sehen könnte. Ihre Augen werden ganz groß. Ich kann nichts erkennen, aber es stimmt also doch: Der Tod tritt immer von rechts ans Bett. Und dann fällt ihr Kopf zurück, ein Schleier legt sich über ihren Blick. Der Griff ihrer Finger um meine Hand wird locker. Ganz langsam entweicht ihr letzter Atem.
    Dann ist sie tot.
    Jetzt muss ich für alle sorgen.

Gisa
    E s gibt ein ungeschriebenes Gesetz, das für alle Hospitäler gilt, ganz gleich, ob sie in Outremer liegen oder im Welschland, in Brabant oder in Hessen. Das Gesetz heißt: keine Aussätzigen! Die Angst vor einer Ansteckung mit dieser schrecklichen Krankheit ist zu groß, es ist einfach zu gefährlich. Jeder weiß das, auch Elisabeth. Und Konrad von Marburg, der ihre Schwäche für die Leprösen nur zu gut kennt, hat ihr das auch strengstens eingeschärft.
    Es war eine Woche nach Ostern im Jahr 1229 , als die Frau plötzlich am Tor kauerte. Die Finger der rechten Hand waren abgefault, sie konnte kaum noch gehen, und in ihrem Gesicht zeigten sich schon die furchtbaren Merkmale der Facies leonina. Die Frau bat unter Tränen um Einlass, sagte, sie wolle nicht irgendwo im Wald verrecken wie ein Tier. Elisabeth sprach mit ihr, und wir alle dachten, sie hätte die Ärmste fortgeschickt. Erst zwei Wochen später kam ich dahinter, dass sie die Frau in dem kleinen Anbau des Holzschuppens versteckt hatte, wo wir Stroh und Decken für die Kranken lagerten. »Du musst sie wegschicken«, redete ich eindringlich auf sie ein. »Ja, es ist schlimm, aber sie steckt uns die anderen an, und dich zu allererst. Du weißt, es ist bloß eine Frage der Zeit.«
    »Wenn Gott will, dass ich am Aussatz sterbe, dann möge es so sein«, erwiderte sie nur.
    Auch Isentrud und Guda versuchten ihr Glück, aber Elisabeth blieb stur. Wir wussten, dass Konrad die Lepröse früher oder später entdecken

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