Die Tore des Himmels
eisblauen Himmel, alle Dächer waren mit weißglitzerndem Raureif bedeckt. Ganz Marburg war auf den Beinen, dick eingemummte Menschen säumten die Gassen vom Tor bis zum Kirchplatz. Es war ein großer Tag, denn zum ersten Mal würde der neue Landgraf die Stadt besuchen und vor der Marienkirche öffentlich Recht sprechen.
Gisa stand ganz vorne in der Menge, eingequetscht zwischen dem Stadtfischer und zwei vornehm gekleideten Bürgersfrauen. Seit über drei Monaten lebte sie nun schon innerhalb der Mauern, in einer kleinen Kammer am Hirschberg unterhalb der Burg. Isentrud und Guda waren längst nach Hörselgau zurückgekehrt, wo Isentrud ein Haus als Witwensitz besaß, aber Gisa hatte in Elisabeths Nähe bleiben wollen. Ein Auskommen hatte sie nach ihrem Weggang aus dem Hospital überraschend schnell gefunden: Sie brachte den Söhnen und Töchtern der Marburger Bürgerschaft Lesen und Schreiben bei, dazu noch ein wenig höfisches Benehmen und Tischmanieren. Die Aufgabe gefiel ihr, sie mochte Kinder gern. Reich würde sie zwar von den paar Pfennigen nicht werden, die sie dafür bekam, aber sie konnte davon immerhin besser leben als im Hospital.
Jetzt gerieten die Leute in Bewegung. Hochrufe erschollen. Gisa reckte den Kopf, und da sah sie ihn auch schon: Heinrich Raspe. Ganz in Blau gekleidet saß er auf seinem Lieblingsschimmel und winkte lässig seinen hessischen Untertanen zu. Er hatte sich nicht verändert in den anderthalb Jahren, die Gisa nun schon fern von Thüringen lebte. Hinter ihm, und das war wohl der eigentliche Grund für den überschäumenden Jubel der Menschen, ritt auf einem hübschen Schecken der kleine Hermann. Ganz gerade hielt sich der siebenjährige Blondschopf auf dem Pferderücken und warf sich vor Stolz in die Brust. Gisas erster Impuls war überschäumende Freude – wie war ihr Liebling gewachsen! Richtige Pausbacken hatte er bekommen, und er strahlte von einem Ohr zum anderen. Aber dann kam der Schreck: Was hatte Hermann bei Heinrich Raspe verloren? Er sollte doch in Bamberg erzogen werden, bei seinem Großonkel Ekbert! Gisa spürte eisige Kälte ihren Rücken hinaufkriechen. Elisabeth hatte damals eigens diese Regelung getroffen, weil sie ihrem Schwager nicht vertraute. Und Gisa hatte sie in ihrem Entschluss bestärkt. Sie kannte schließlich Heinrich Raspe und seinen unbändigen Ehrgeiz. Sein kleiner Neffe stand zwischen ihm und der Macht – zwar jetzt noch nicht, aber im Augenblick seiner Volljährigkeit. Dann würde Heinrich ihm die Landgrafenwürde überlassen müssen. Und Gisa fürchtete, dass er nicht warten würde, bis es so weit kam.
Zu allem Überfluss erkannte sie in dem Reiter hinter Hermann das Narbengesicht von Ortwin, dem Eisenacher Galgenvogel. Und dahinter, auf seinem altgedienten Braunen, trabte mitten im Pulk der Höflinge Raimund von Kaulberg. Gisa gab es einen Stich im Herzen. Sie sah sein schmales Gesicht, das dunkle Haar, das an den Schläfen erste Strähnen von Grau zeigte, die breite Brust, an die sie sich einst so glücklich geschmiegt hatte. Er sah sie nicht, sah nicht, wie sich der Schatten der Wehmut über ihre Züge legte.
Dann waren der Landgraf und sein Gefolge vorüber, sie bogen in die Rittergasse ein, um den steilen Weg zur Burg hinauf zu nehmen. Erst für den nächsten Morgen war die Gerichtssitzung geplant.
Gisa ging nach Hause, sie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Nicht nur, dass der Anblick Raimunds sie viel tiefer getroffen hatte, als ihr lieb war, sondern die Anwesenheit des kleinen Hermann beunruhigte sie. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker wuchs ihre Angst. Heinrich würde dem Jungen früher oder später etwas antun, dessen war sie gewiss. Er würde sich den Landgrafentitel nicht mehr nehmen lassen. Zudem war er ja nun verheiratet, eigene Kinder würden kommen, und denen wollte er ganz bestimmt die Herrschaft sichern.
In dieser Nacht schlief Gisa kaum. So viele Gedanken wälzten sich in ihrem Kopf. Und am Morgen hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie musste etwas unternehmen. Und es gab nur einen einzigen Menschen im Gefolge des Landgrafen, mit dem sie reden konnte, dem es möglich sein würde, Elisabeths Sohn zu schützen: Raimund.
Sie würde mit ihm sprechen – auch wenn es weh tat.
Nach langer Suche fand sie ihn mitten im Trubel des Gerichtstags; er lehnte am Portal der Marienkirche und beobachtete, wie die Schöffen ihren Platz einnahmen und die Bittsteller sich in einer Reihe formierten. Nach den
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