Die Tore des Himmels
nicht besetzt wäre. »Aber Frau Elisabeth kennt mich«, versuche ich es noch einmal, »aus Eisenach. Sie würde es erlauben! Und der Michel lebt sonst nicht mehr lang, schaut doch nur!«
»Da ist er nicht der Einzige«, entgegnet sie ungerührt und wirft einen kurzen Blick auf Michel. Sein erbarmungswürdiger Anblick würde einen Stein erweichen, aber nicht diese Frau. »Wir dürfen niemanden mehr aufnehmen«, sagt sie. »Befehl von Herrn Konrad, unserem Provisor. Das Spital kann nicht alle Kranken der Welt beherbergen. Ihr müsst warten, bis einer stirbt.«
»Geh jetzt und frag morgen wieder!« Ein Stadtknecht, der vor dem Hospitaleingang für Ordnung sorgt, schiebt mich zur Seite. Michel weint, und ich könnte auch heulen.
Langsam gehe ich zu unserem Karren zurück. Ich bin ganz verzweifelt. »Sie lassen uns nicht hinein«, sage ich. Miriam nimmt mir den Kleinen ab. Da sehe ich von weitem eine Gestalt von Marburg her kommen mit einem großen Bündel unter dem Arm. Irgendetwas an ihr kommt mir bekannt vor. Und dann weiß ich plötzlich, wer es ist.
»Jungfer Gisa!«, brülle ich aus Leibeskräften, »Jungfer Gisa!«
Sie fängt an zu rennen, wirft ihr Bündel hin und fällt mir um den Hals. »Primus, mein Gott, was tust du denn hier?«, fragt sie.
Ich erzähle ihr alles und zeige ihr Michel, der in Miriams Armen vor Schwäche und Erschöpfung in einen tiefen Schlaf gefallen ist. »Er stirbt, Gisa«, sage ich. »Wir glauben, dass Frau Elisabeth seine letzte Hoffnung ist. Nur sie kann ihn noch retten!«
»Der arme kleine Kerl«, sagt sie.
Und dann erzählt sie, dass sie eigentlich nicht mehr bei Elisabeth sein darf. Aber weil das Hospital inzwischen zum Bersten voll mit Kranken ist, wird ihre Hilfe so dringend gebraucht, dass der Prediger ihr erlaubt hat, täglich ein paar Stunden zu kommen, solange sie sich von Elisabeth fernhält und nicht mit ihr spricht.
»Kann sie wirklich Menschen heilen und Kinder vor dem Tod retten?«, will ich wissen.
»Manche vielleicht«, erwidert Gisa. »Sie hat eine Gabe. Ich weiß nicht, wie sie es macht. Die Leute sagen, der Allmächtige wirkt durch ihre Hände.«
Miriam gibt mir Zeichen, und ich übersetze: »Hilf uns! Bring Michel zu Frau Elisabeth!«
Da zurrt Gisa ihr Bündel auf. Die Leintücher, die ganz innen sind, legt sie weg, bis auf eines. »Gebt mir den Kleinen«, sagt sie. Vorsichtig wickelt sie Michel in das Tuch. Am Schluss den Sackstoff wieder drumherum gebunden, und von Michel ist nichts mehr zu sehen. Gisa nimmt das Bündel wieder unter den Arm und geht damit auf den Spitaleingang zu. Miriam und ich halten den Atem an; hoffentlich wacht Michel nicht auf und schreit.
Aber alles geht gut. Gisa ist drin.
Gisa
D er Tag, an dem ich Michel ins Hospital brachte, war der Mittwoch nach Allerheiligen. Gegen das Verbot Konrads hatte ich mich in einem unbeobachteten Augenblick zu Elisabeth geschlichen und ihr das Kind in den Arm gedrückt. »Es ist Primus’ Bruder«, flüsterte ich. »Erinnerst du dich noch an Primus?« Elisabeth hatte genickt. Sie wagte nicht, mit mir zu sprechen oder sich länger in meiner Nähe aufzuhalten. Aber sie drückte Michel sofort an sich und strich ihm liebevoll übers nassgeschwitzte Köpfchen. Dann trug sie ihn ins Haus.
Ich warf einen Blick durchs Fenster nach drinnen. Ursprünglich war das Wohnhaus nicht als Krankenstätte gedacht gewesen, aber das hatte sich längst geändert. In halbdunklen Winkeln stöhnten und jammerten zusammengekrümmte Gestalten. Hildegund, das Mädchen, dem Elisabeth so rücksichtslos die Haare abgeschnitten hatte, saß auf der Bank, ein krankes Kind auf dem Schoß. Mit geschlossenen Augen wiegte sie das Kleine und summte eine Melodie dabei. Hildegund war seit dem Tag der Geldvergabe im Hospital geblieben; überall sonst hatte man sie wegen ihres geschorenen Kopfs weggejagt. Und es hatte sich erwiesen, dass keiner so gut mit Kindern umgehen konnte wie sie, vielleicht weil sie selber im Kopf noch eines war. Vor einer Woche hatte Konrad sie eingekleidet und ihr den Eid der Hospitalschwestern abgenommen.
Ich wandte mich ab und ging mit schwerem Herzen hinaus zu Primus und Miriam. Ich hatte bis dahin viele schwerkranke Kinder gesehen, aber selten eines, das in einem schlimmeren Zustand war. Es gab nicht viel Hoffnung, der kleine Junge war dem Tod ganz nah. Aber von nun an würde sich Elisabeth um Michel kümmern. Und vielleicht würde ihr ja das Wunder gelingen.
Ob es ein Wunder war? Die Menschen im
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