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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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befiel Kinder und Alte, Frauen und Männer gleichermaßen. Schon Anfang Oktober waren so viele krank, dass der Michaelimarkt abgesagt werden musste. Tag und Nacht lag der beißende Geruch von Räucherwerk über der Stadt, aber weder Wacholder noch andere Kräuter konnten die Ausbreitung der Seuche verhindern. Die Zahl der Opfer stieg unaufhörlich.
    Gisa war gleich zu Beginn der Epidemie krank geworden, hatte sich aber dank Miriams und Primus’ Pflege schnell wieder erholt. Die beiden wohnten inzwischen in einem zugigen Dachstübchen in der Aulgasse; Primus schlug sich als Tagelöhner durch, und Miriam half im Spital, wo man in letzter Zeit jede Hand gebrauchen konnte. Die Kranken lagen zu dritt in den Betten; in allen Ecken und Winkeln hatte man Stroh aufgeschüttet, um Neuankömmlinge unterzubringen, die zu schwach waren, als dass man sie hätte abweisen können.
     
    Am letzten Oktobertag kam Miriam kurz vor Sonnenaufgang nach Hause und redete ganz aufgeregt mit den Händen auf Primus ein.
    »Du meinst, Konrad von Marburg ist krank geworden?«, fragte Primus zur Sicherheit nach. »Schwer?«
    Sie nickte.
    Primus atmete tief durch. »O heiliger Strohsack, vielleicht befreit uns der Herrgott von diesem Scheusal.« Er hatte von Gisa alles über Konrad und sein Verhältnis zu Elisabeth erfahren. »Wer kümmert sich um ihn?«, fragte er Miriam, »Elisabeth?«
    Sie nickte wieder. Natürlich hatte Elisabeth darauf bestanden; sie wollte die Einzige sein, die ihn pflegte.
    Vier Tage und Nächte saß sie an seinem Lager, flößte ihm Aufguss aus Lindenblüten und Schafgarbe ein, machte ihm kalte Wickel und wechselte seine nassgeschwitzten Laken. Es ging ihm schlecht, sogar so schlecht, dass er mit Elisabeth darüber sprach, wie es ohne ihn weitergehen sollte. »Du musst im Falle meines Todes das Hospital sofort dem Johanniterorden überantworten«, keuchte er heiser. »Im letzten Jahr hat der Graf von Battenberg ihnen in Wiesenfeld ein Kloster gestiftet. Das ist nicht weit von hier, und die Johanniter als Kreuzritterorden wissen, wie man ein Spital führt.«
    »Schscht«, machte Elisabeth und drückte seinen Oberkörper sanft in die Polster zurück. Er wehrte sich und sprach weiter: »Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass deine Besitzungen wieder an die Ludowinger zurückfallen.« Ein Hustenanfall schüttelte ihn, dann sprach er mühsam weiter. »Und ich lege dir ans Herz, einen neuen Beichtvater zu nehmen, der in meinem Sinne mit dir weiterarbeiten wird, nämlich …«
    Elisabeth fiel ihm ins Wort. »Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, Meister. Denn Ihr werdet am Leben bleiben.«
    Er richtete sich auf. »Wie meinst du das?«
    Ihre Augen verdunkelten sich. »Ihr werdet mich überleben, Herr Konrad. Denn nicht Ihr werdet sterben, sondern ich.«
    In diesem Satz und der Art, wie sie ihn sagte, lag etwas so Endgültiges, dass selbst Konrad es spüren konnte. Die Erkenntnis, dass Elisabeth ihr Ende tatsächlich kommen sah, überwältigte ihn und machte ihn sprachlos. Lange sah er Elisabeth an. Dieses Geschöpf – sein Geschöpf! Mit seinen vierundzwanzig Jahren halb Kind, halb Greisin. Diesen Körper, ausgezehrt, schwach, eine papierene Hülle. Dieses Gesicht, blass und eingefallen. Diese Augen, dunkel, müde, tief in den Höhlen liegend. War es an der Zeit? Hatte sie ihr Ziel denn schon erreicht? Wollte sie nicht mehr leiden? Oder war einfach all ihre Kraft verbraucht? Langsam, ganz langsam ließ er sich zurück in die Kissen sinken und schloss die Augen. Er wusste, er konnte nichts mehr tun. Sie würde nicht mehr auf ihn hören. »Der Wille des Herrn geschehe jetzt und in Ewigkeit«, flüsterte er.
    Dann fiel er in einen tiefen Schlaf.
    Als er am Morgen des fünften Tages seiner Krankheit erwachte, war das Fieber fort, und er fühlte sich mit neuer Kraft erfüllt. Er wartete darauf, dass Elisabeth die Frühsuppe bringen würde. Aber sie kam nicht.

Gisa
    E s war der Dienstag nach Allerseelen. Primus kam abends vorbei, als ich gerade zu Bett gehen wollte.
    »So spät?«, fragte ich ihn besorgt. »Ist etwas mit Michel?« Der Bub hatte seine schlimme Krankheit zwar längst überwunden, aber er war immer noch zu klein und zu schwach für einen Dreijährigen.
    Primus redete nicht lange herum. »Elisabeth hat sich angesteckt. Miriam sagt, es hat sie schlimm erwischt.«
    Warum nur hatte ich das kommen sehen? Wie viele inbrünstige Gebete hatte ich zum Himmel geschickt, als man überall in der Stadt davon sprach, Konrad sei

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