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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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Hospital glaubten es jedenfalls. Alle hatten sie Michel gesehen, dieses rohe Stück Fleisch, in dem kaum mehr Leben war. Jeder wusste, dass Elisabeth außer Gebeten und einer einfachen Salbe aus Gänsefett nichts hatte, um der Krankheit zu begegnen. Und dennoch: Eine Woche später begannen die Wundränder auf Michels Brust und Rücken einzutrocknen. Neue Haut bildete sich.
    Noch eine Woche später war das Fieber gesunken und Michel öffnete erstmals die verklebten Augen und verlangte zu essen. An Weihnachten begann auch die erste Stelle in seinem Gesicht zu heilen. Es ging unendlich langsam, aber Kleine war über den Berg.
    Das ganze Hospital brach in Jubel aus, als Michel zwei Tage vor Oculi erstmals wieder auf seinen eigenen Beinchen stand. Alle hatten ihn liebgewonnen, den tapferen kleinen Kerl, der so zäh mit Gevatter Tod gerungen und ihn schließlich besiegt hatte. Und für viele, die bis jetzt noch an Elisabeth gezweifelt hatten, war die Genesung des Buben der letzte Anlass, endlich zu glauben, was für andere längst offensichtlich war: Elisabeth konnte Wunder wirken. Es schien, als ob sie ihre Kraft auf die Kranken übertrüge.
    Und dass dem so war, konnte jeder sehen. Mit jedem Tag wurde Elisabeth weniger. Hatte sie anfangs noch vor lauter Arbeit die Mahlzeiten vergessen, so aß sie jetzt fast gar nichts mehr, selbst wenn sie Zeit hatte. Anfangs war dieses Hungern ein Mittel der Selbstkasteiung gewesen, mit dem sie Gott beweisen wollte, wie gering sie sich selbst und ihre weltliche Hülle schätzte. So hatte Konrad es sie gelehrt; das Speisegebot war hierfür der erste Schritt gewesen. Sie sollte die Erlösung ihrer Seele durch die Vernachlässigung ihrer körperlichen Bedürfnisse erreichen. Askese nannte er das. Aber seit langem schon hatte sich diese Askese ins Gegenteil verkehrt: Elisabeth konnte nicht mehr essen, selbst wenn sie gewollt hätte. Was sie einst freiwillig getan hatte, war ihr zum Zwang geworden. Sie spürte keinen Hunger mehr. Allein der Anblick von Nahrung verursachte ihr zuweilen solchen Ekel, dass sie würgen musste. Kein Stückchen Brot brachte sie mehr hinunter. Das Einzige, was sie noch zu sich nahm, war eine Wasserbrühe mit wenig Gemüse, die sie sich selber auf dem Herdfeuer braute. Die konnte ja gar nicht schmecken; wir wussten ja alle, wie miserabel Elisabeth kochte. Isentrud hatte zu Wehrda, als sie damit angefangen hatte, immer gesagt, Elisabeth sei der einzige Mensch, der es fertigbrächte, Wasser anbrennen zu lassen.
    Anfang des Jahres 1231 hatte selbst Konrad Bedenken bekommen: War nicht diese Nahrungsverweigerung eine Art langsamer Selbstmord? Das durfte nicht sein, denn Selbstmord war eine Todsünde und würde eine spätere Heiligsprechung niemals zulassen. Und das war schließlich nicht nur Elisabeths erklärtes Ziel, sondern auch seines. Also holte Konrad einen reisenden Medicus ins Hospital, den er fragte, wie wenig ein Mensch gerade noch essen konnte, um nicht zu sterben. Der Arzt schrieb Elisabeth auf, was sie täglich zu sich nehmen sollte, aber es war müßig. Sie war nicht mehr in der Lage, seinen Rat zu befolgen.
     
    Nach dem Winter hatte Konrad für alle Hospitalinsassen einen Badetag angeordnet, auch Elisabeth durfte keine Ausnahme machen. Eigentlich hätte ich ihr nicht beim Baden helfen dürfen, aber ich wollte ihr so gern diesen alten Dienst erweisen, so wie früher. Also überredete ich ihre neuen Mägde Lisbeth und Irmengard, dabei sein zu dürfen.
    Als Elisabeth nackt im Zuber stand, sah ich zum ersten Mal das ganze Ausmaß ihrer Auszehrung. Ich erschrak zu Tode. Zum Skelett war sie abgemagert. Sie hatte Arme und Beine, dürr wie trockene Zweige. Rippen, Schlüsselbeine, Schulterblätter standen hervor, Brüste und Hinterbacken hingen faltig und welk am Körper. »Bitte«, sagte Elisabeth leise, »ich will, dass Gisa mich wäscht. Allein.«
    »Das müssen wir Meister Konrad sagen«, wandte Irmengard ein. Aber Lisbeth winkte ab. Elisabeths Anblick hatte sie genauso erschüttert wie mich. Also schwiegen sie und gingen.
    Wir weinten beide stumm, während ich mit einem Lappen vorsichtig Elisabeths vernarbten Rücken wusch. Danach schlüpfte sie in eine frisch gewaschene graue Kotte.
    »Du musst essen«, sagte ich verzweifelt. »Körper wie den deinen habe ich zuletzt bei der Hungersnot von 1226 gesehen. Diese Menschen sind gestorben, Elisabeth. Willst du denn sterben?«
    Elisabeth lächelte. »Ach, Gisa, Dummchen. Mach dir doch keine Sorgen um mich. Der

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