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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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ich schwöre, es ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Er nannte die katholische Kirche die »große Hure der Apokalypse«, ihre Priester seien Sünder und täten Werke des Teufels. Sie trügen goldene Ringe, regierten alles Volk und fluchten den Frommen. Sie seien Prediger in einer Kirche der Übelwollenden. Sie beteten das Kreuz an, das Marterwerkzeug Christi.
    Herr im Himmel, was redete Wido da! Mir wurde fast schlecht davon. Das dort drinnen waren leibhaftige Ketzer! Das waren die Menschen, von denen Magister Berthold die schrecklichsten Dinge erzählte, die den wahren Glauben verleugneten, die Gott lästerten! Ich schloss die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein!
    Ach, und jetzt weiß ich doch alles wieder, höre jedes einzelne Wort, das Wido sagte: »Wir hingegen sind die Armen Christi, haben keinen festen Wohnsitz, fliehen von Stadt zu Stadt; wie Schafe in einem Rudel Wölfe leiden wir Verfolgung mit den Jüngern und den Märtyrern. Wir halten das aus, weil wir nicht von dieser Welt sind. Nur in und durch uns gelangen die Seelen der gefallenen Engel in die ewige Freiheit Gottes. Wir sind die wahren Christen, die guten Menschen, die boni homines.«
    Ich hatte inzwischen so viel Angst, dass ich kaum noch atmen konnte. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte und sah ich Dinge, die meine Welt in Frage stellten. Ich hatte mich in eine Gefahr begeben, die ungeheuerlich war. Aber – konnte das, was diese Menschen dort drinnen taten, falsch sein? Der Landgraf war doch dabei! Der zweithöchste Fürst im Reich! Höchstselbst war er vor Wido auf den Knien gelegen und hatte ihm gehuldigt! Lieber Gott, war mein Ziehvater ein Ketzer?
    Mir schwirrte der Kopf. Meine Finger schmerzten immer mehr, und ich konnte mich kaum noch auf den Zehenspitzen halten, aber ich biss die Zähne zusammen. Wido sprach das Vaterunser mit solch heiligem Nachdruck, wie ich es noch nie gehört hatte. Die anderen beteten nicht mit; erst viel später erfuhr ich, dass nur Wido als Perfekter das Recht hatte, dieses höchste aller Gebete zu sprechen. Danach reichte ihm jemand einen in ein weißes Tuch gehüllten Laib Brot; er brach ihn in Stücke und verteilte an jeden einen Brocken. War dies das Abendmahl? Oder eine Satansmesse? Ich verstand nichts mehr.
    Wido sprach weiter, über eine Gemeinde in Köln, der er angehörte, über Luzifer, den er als Gott des Alten Testaments bezeichnete, über das Böse in der Welt, darüber, dass der Mensch entweder Teufel oder Engel sei und die Welt ein Kampfplatz zweier feindlicher Mächte: Gott und Satan. Die Verfolger der »Reinen« seien dem Bösen verfallen. »Selig seid Ihr«, rief er schließlich den anderen zu, »wenn Euch die Menschen hassen.« Seine Augen flackerten, und plötzlich war mir, als wüchsen ihm Hörner aus dem kahlen Schädel, als spräche aus ihm der Teufel selbst.
    Ich riss mich aus meiner Angststarre und sprang von meinem Querbalken. Dann rannte ich weg, so schnell mich meine Füße trugen. So voller Furcht und Schrecken war ich, dass ich schlimmer hinkte als je zuvor.
     
    Ich blieb erst stehen, als ich wieder im Burghof war. Mir brannte es in der Brust, und das Herz klopfte mir bis zum Hals. Mein Kopf schmerzte, ich war völlig durcheinander. Ich war Zeugin von etwas geworden, das ich nicht verstand, aber ich wusste, es war etwas Ungeheuerliches. Ich fühlte mich entsetzlich. Was sollte ich tun? Zitternd lief ich den Gang zur Frauenkemenate entlang.
    Als ich um die Ecke bog, lief ich geradewegs meiner Ziehmutter in die Hände.
    »Ei hoppla«, rief sie fröhlich, »wo bleibst du denn, es ist gleich Bibelstunde!«
    Ich stammelte irgendetwas. Sophia stutzte und hob mit der Spitze ihres Zeigefingers mein Kinn an. »Herrje, was ist dir denn, Gisa?«, fragte sie verblüfft. »Du siehst aus, als sei dir ein Geist begegnet.«
    »N… nichts, es ist nichts«, log ich.
    »Unsinn. Ich sehe doch, dass dir etwas Angst macht.« Sie legte fürsorglich den Arm um meine Schultern.
    Da sprudelte es aus mir heraus. Alles, was ich gesehen hatte.
    Und dann geschah etwas Unerwartetes. Sophias ganzer Körper versteifte sich, ihr Gesicht wurde hart.
    »Nie, nie, niemals bist du dort unten gewesen!« Die Landgräfin packte mich bei den Schultern und schüttelte mich, dass es mir in allen Gliedern weh tat. »Hast du mich verstanden? Du hast nichts gesehen und nichts gehört! Das war nichts als ein böser Traum, eine Phantasterei! Schwör’s!«
    »Ich schwör’s ja!«, weinte ich und streckte Sophia

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