Die Tore des Himmels
Mutter musste sich um den Michel kümmern, weil er den Husten hatte, und um das Kleine. Es ist ein Mädchen und heißt Ida, nach der Schwester vom Schäfer-Friedel.
Die anderen vom Dorf haben viel geholfen. Holz gehackt fürs Herdfeuer, den Zaun um den Gemüsegarten gerichtet, das Scheunendach mit Stroh geflickt, halt alles, was ein Bauer im Winter machen muss. Zu essen war genug da, weil die Ernte gut war. Fleisch nicht – man findet eben nicht jedes Jahr eine tote Wildsau, sagt Vater. Aber Käse und Pferdebohnen und Eier und Kraut und Brot. Und der Friedel hat mir gezeigt, wie man mit der Gambelschleuder Vögel abschießt. Die kleinen hab ich nie getroffen, die sind zu flink, aber ein paar Elstern und Eichelhäher, und einmal einen Specht. Die hat die Mutter dann am Spieß gebraten.
Jetzt kommt wieder die Zeit zum Pflügen und Säen, und das kann der Vater nicht mehr. An Fastnacht, als er geglaubt hat, ich und Michel schlafen schon, hat er sich an den Tisch gesetzt und geweint. »Ich bin ein Krüppel fürs ganze Leben«, hat er gesagt, ich hab’s genau gehört. Da hab ich auch weinen müssen, weil es so traurig war.
Am nächsten Tag ist die Mutter nach Eisenach zum Kastner gegangen, um Hilfe bitten. Das Unglück ist ja beim Fronen geschehen, also muss die Herrschaft doch ein Einsehen haben.
Als sie heimgekommen ist, hat sie auch geweint. Der Kastner hat ihr erklärt, dass ein Hintersasse, der seine Hufe nicht mehr bestellen kann, vom Hof muss. Sonst bekämen die da droben ja keine Steuern und Abgaben mehr, und wo käme man da hin. Aber habt doch Mitleid, hat die Mutter zum Kastner gesagt und ihm das kleine Idalein entgegengestreckt, aber der Herr Richwin hat sie zur Tür hinausgeschoben und gesagt, er gibt uns eine Woche Zeit.
Jetzt stehen wir in aller Frühe vor dem Stadttor von Eisenach und warten, dass aufgesperrt wird. Alles, was wir haben, ist auf dem Karren, den Mutter und ich ziehen, und obendrauf sitzt der Michel und hält die Kleine fest. Es ist kalt und nass, und ein garstiger Wind bläst. Wir sind alle traurig, weil wir nicht wissen, wie es weitergehen soll. »Wir müssen in die Stadt«, hat der Vater gesagt. »Vielleicht finde ich da eine Arbeit.«
Ich bin ganz aufgeregt, als der Torwart uns endlich hineinlässt. »Bettlerpack«, brummt er, als er uns durchwinkt. Gemeiner Schweinearsch! Hoffentlich fällt ihm auch ein Baum aufs Bein, dann kann er mal sehen, wie das ist!
Wir ziehen unseren Karren durch die schlammigen Gassen, an zwei- und dreigädigen Häusern vorbei, die alle aus Fachwerk gebaut sind und Strohdächer haben. Ein paar Steinhäuser gibt es auch, die sind dick und stark und riesig groß, und da wohnen die da droben. Oder Mönche und Nonnen. Und dann sind da noch die Kirchen, die sind auch aus Stein. Man kommt sich ganz klein vor in so einer Stadt. Obwohl der Vater sagt, es gibt noch größere Städte, Erfurt zum Beispiel, da war er schon einmal. Ich finde, in Eisenach stinkt es ganz furchtbar, viel schlimmer als daheim in Stregda. Das liegt daran, dass die Leute, die in der Stadt wohnen, Kühe und Schweine und alles mögliche andere Viehzeug halten, und die scheißen überallhin. Und die Menschen schütten ihren ganzen Abfall und Kehricht einfach auf die Straße oder in die Zwischenräume zwischen den Häusern. Was die Schweine nicht fressen, bleibt dann eben liegen und stinkt. Im Sommer ist es noch schlimmer, sagt Vater. Er führt uns in eine kleine Gasse hinter der Michaelskirche, und ich merke, wie schlecht er in dem Schlamm laufen kann, obwohl er doch den Stock hat. Vor einem schmalen Häuschen bleibt er stehen. »Da ist es«, sagt er. Wir lassen den Karren einfach, wo er ist, weil sowieso nichts drauf ist, was sich zum Klauen lohnt, und steigen dann eine baufällige Außentreppe hoch bis unters Dach, wo Vaters Großonkel Ernfried mit seiner Frau Anna wohnt. Das sind alte Leute, und Onkel Ernfried ist Korbflechter und ganz arm, sagt Mutter. Als er die Tür aufmacht und Vater sieht, erschrickt er. Und ich auch, weil er nur ein Auge hat und statt dem anderen ein Loch. »Lieber Heiland, was wollt Ihr denn hier?«, fragt er. »Und was ist mit deinem Bein?«
»Könnt ihr uns ein paar Tage unterbringen?«, fragt Vater.
»Herrjesus!«, schreit Tante Anna. Sie ist knochendürr und hat weißes Haar wie Spinnweb. Ihre Finger sind von der Gicht ganz krumm, und Zähne hat sie auch nicht mehr viele. »Seht ihr hier einen Platz? Und zu essen haben wir kaum für uns selber!«
Vater
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