Die Tore nach Thulien, Buch I: Dunkle Gassen: Wilderland (German Edition)
Gestank einmal ganz abgesehen. Ein Blick auf den Kerkermeister ließ es ihn erahnen. Der Kerl war nicht nur bleich, er war weiß. Die Sonne kannte er vermutlich nur noch vom Hörensagen und er stank mindestens genauso schlimm, wie es in den Gefängniszellen roch. Die Augen waren rot unterlaufen und Tristan war sich sicher, dass es nicht an der Arbeit oder dem Stress lag. Wein und Schnaps, so vermutete er, hießen seine besten Freunde und er konnte ihm das nicht einmal verübeln. Jeder der längere Zeit hier unten verbrachte, musste irgendwann damit anfangen, seine Nerven und Sinne zu betäuben. Alkohol war da ein beliebtes Mittel.
Tristan entließ den Kerkermeister aus seinem Dienst, die Fackel behielt er bei sich. Das fahle Licht der Ölfunzel reichte nicht einmal annähernd aus, um den Leichnam genauer zu untersuchen.
Der Mann war ungefähr dreißig Winter alt und hatte die Größe von Tristan. In Farben aus Schwarz und Rot trug er fremd anmutende Kleidung am Leib. Ein schmaler Gürtel umschlang die Taille des Mannes, von einer goldenen Schnalle zusammengehalten. Beiderseits der Schnalle säumten kleine Laschen und Schlaufen den Gürtel und in mancher steckten Dolche, Wurfpfeile oder Messer. Um den Hals des Leichnams war ein schwarzes Tuch gewickelt, das bei Bedarf bis über den Nasenrücken gezogen werden konnte. Tristan kannte Tücher dieser Art, doch gehörten sie in Leuenburg definitiv nicht zur getragenen Mode. Ein Fremder lag dort vor ihm aufgebahrt. Nicht von hier und auch nicht aus den nördlichen Herzogtümern folgerte Tristan.
Vielleicht doch keine der üblichen Händel? Er sah nachdenklich auf den Leichnam herab. Die tödliche Wunde, so hatte er sich vom Kerkermeister sagen lassen, sei ein Stich in die Seite des Opfers gewesen. Absolut tödlich, auch mit sofortiger Hilfe durch einen Feldscher. Tristan lief es eiskalt den Rücken runter. Der Täter hatte genau gewusst, was er tat. Kein großer Schnitt, kein großes Aufsehen, lediglich ein wohl platzierter Stich. Tristan sah in die glanzlosen, erloschenen Augen des Toten. Er meinte, so etwas wie Überraschung und Unglauben in ihnen zu entdecken. Hatte er nicht gewusst, wie ihm geschah? Tristan beugte sich nach vorne, die Fackel dabei etwas weiter an den Leichnam haltend. Er sah sein eigenes Spiegelbild in den Augen des Toten, doch so viel er auch forschte, mehr entdeckte er nicht. Sein Blick ging zur Wunde. Der Einstich war wirklich nicht sonderlich groß. Eine Wunde, wie sie ein Dolch oder ein größeres Messer verursachen konnte. Der Stoff um das Loch war blutgetränkt und das Fleisch dahinter blau unterlaufen. Tristan roch daran, doch außer dem bereits einsetzenden Verwesungsgeruch konnte er nichts anderes feststellen. Unwillkürlich musste er würgen, und wie aus dem Nichts legte sich ein bitterer Kloß in seinen Hals. Angewidert machte er einen Schritt zurück. Nicht, dass er von Giften oder derlei Sachen viel verstand, doch einen Versuch war es allemal wert. Als er sich wieder aufrichtete, blieb sein Blick an der linken Hand des Toten hängen. Ein Skorpion schmückte deren Rücken, schwarz und mit erhobenem Schwanz. Vom Stachel troff ein feiner, dünner Faden und die Augen glühten feuerrot. Ein schöner Stich, gekonnt gesetzt. Auch in Leuenburg kannte man Tätowierungen. Vor allem Krieger und Soldaten trugen diese oft zum Zeichen ihrer Taten oder Gesinnung. Solch ein Symbol hingegen hatte Tristan noch nie gesehen. Du bist wirklich nicht von hier . Langsam und nachdenklich trat er ein paar Schritte zurück und besah sich die ganze Szenerie noch einmal. Ein Fremder, soviel stand fest. Bewaffnet wie ein Krieger und doch nur leicht bekleidet. Tristan schüttelte den Kopf. Der Tote konnte ihm keine Antworten mehr geben. Die einzige Spur, die er hatte, waren die Worte eines Halunken. Eines ehrlichen Halunken zwar, aber doch eines Halunken. Für die Suche nach einer Frau mit kastanienfarbenem, schulterlangem Haar hatte er weder die Zeit noch die Mittel, und Hauptmann Taris würde ihm dafür niemals die benötigte Anzahl Männer zur Verfügung stellen.
Tristan war froh, die Leichenkammer hinter sich gelassen zu haben. Nach seinem Ausflug in die Unterwelt, in die Abgründe menschlichen Lebens, die eigentlich soweit weg und doch nur ein paar Stufen unterhalb der Oberfläche Leuenburgs lauerten, glich das Büro des Hauptmanns plötzlich einem Hort der Ruhe, des Lichts und des Lebens.
Der Bericht an Taris zeichnete kein sonderlich gutes Bild vom Stand
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