Die Tore nach Thulien, Buch I: Dunkle Gassen: Wilderland (German Edition)
denkwürdigen Momenten ihren Göttern nahe zu sein. Allein für den Besitz konnte man sie lange ins Gefängnis werfen, in manchen Gegenden des Reiches sogar straffrei aufknüpfen. Das Pulver war, wie fast alles der alten Religion, aus dem Alltag der Menschen verdammt worden. Ketzerin würde man sie schimpfen, wüssten die Heiligen und Frommen der Herrin von ihrem Besitz. Jene, die noch immer an den alten Gebräuchen und der alten Religion festhielten, wurden erbarmungslos gejagt und verfolgt. Tausende waren damals, vor mehreren Hundert Jahren, der so genannten Befreiung zum Opfer gefallen, und bis heute gingen die Erlöser der Herrin , wie sie sich selbst nannten, ohne Gnade gegen all jene vor, die sich nicht vom alten Glauben lossagen wollten. Als Zauberkünstler und Dämonenpaktierer wurden sie bezeichnet, und das allein war für viele Erlöser die Rechtfertigung zum Mord. In manchen Gegenden, so erzählte man sich, fielen sogar Kinder der Erlösung zum Opfer. Ein grausames Ritual, bei dem durch gewaltsamen Tod der Geist eines Menschen vom Körper getrennt wurde. Ob die Erlöser jemals soweit gegangen waren, konnte Shachin nicht sagen, doch schenkte sie Schauermärchen dieser Art keinen Glauben. Sicherlich war die Verfolgung der Unreinen , wie die Erlöser alle Menschen anderen Glaubens nannten, brutal und abscheulich, doch war die religiös motivierte Assimilation das eine, feiger Kindermord aber etwas ganz anderes.
Shachin gab eine Fingerspitze des Pulvers in einen mit Wasser gefüllten Tonkrug. Sofort begann das Wasser damit, Blasen zu werfen und wenige Augenblicke später stieg beißender Rauch auf. Shachin führte den Krug an ihr Gesicht und mit tiefen Atemzügen sog sie den Dampf in sich auf. Sie musste husten und im nächsten Augenblick einen Würgereflex unterdrücken. Die Schwingen des Raben waren heimtückisch und gefährlich. Eine falsche Dosierung des Pulvers oder fehlerhafte Atemtechnik konnte für Ungeübte und Laien den Tod bedeuten. Denen wiederum, die ihr Handwerk verstanden und wussten, worauf sie sich einließen, eröffneten die Schwingen Wege und Pfade in ungeahnte Dimensionen ihres Geistes. Dinge, die längst im Strudel der Zeit und den Abgründen des Verstandes vergessen geglaubt waren, traten wieder hervor. Shachin hatte sogar von Menschen gehört, denen Dank der Schwingen ein Blick in eine mögliche Zukunft offenbar wurde. Ihr selbst reichte ein Schritt in die Vergangenheit. Eine Reise zurück in ihre Kindheit.
Shachin konnte spüren, wie sich ihre Sinne schärften. Gestochen scharfe Konturen und glasklare Töne begannen damit, ein Bild zu zeichnen. Es war nicht mehr nur die diskrete Abhandlung einzelner Empfindungen, sondern die vollkommene Überlagerung verschiedenster Eindrücke. Es war, als betrete sie mit einem unbekannten, sechsten Sinn eine neue Dimension. Farben hatten plötzlich Geschmack und Töne wurden sichtbar. Unbeschreibliche Schönheit und überwältigende Klarheit trafen Shachin mit einer Wucht, die sie ins Straucheln brachte. Sie musste sich an einem Felsen abstützen. Langsam sank sie auf die Knie. Ihre Hände begannen zu zittern und Schweiß rann ihr über die Stirn. Sie wusste was nun kam. Es war nicht ihre erste Reise mit den Schwingen des Raben , doch bei weitem ihre schwierigste. Soweit zurück war sie noch nie gegangen, und soviel Pulver wie heute hatte sie noch nie genommen. Shachin war stark und ihr Körper wusste um die Wirkung des Gifts in ihrem Blut, und dennoch, sie hatte Angst. Alle Konzentration war nach innen gerichtet. Es begann ganz langsam. Vor ihrem geistigen Auge drehte sich die Zeit zurück. Erst in Tagen, Schritt für Schritt, dann in Wochen und schließlich in ganzen Monaten und Jahren. Aus kleinen Sprüngen wurden gewaltige, und die Bilder rasten. Sie musste sich noch stärker konzentrieren. Shachin wusste, wohin sie wollte, doch nicht, wann es soweit war. Fetzen aus ihrem Leben zogen wie der Wind an ihr vorbei. Momente aus der jüngeren Vergangenheit, Augenblicke ihrer Jugend und schließlich die Jahre der Ausbildung.
Mit einem Schlag blieb die Zeit plötzlich stehen und ein Bild manifestierte sich. Shachins Augenlieder bebten vor Anstrengung und Konzentration. Sie sah sich um. Ein dunkler Ort, die Seiten vom Fackelschein erhellt. Undeutlich konnte sie zwei Schemen ausmachen, die sich am Rand ihres Blickfeldes unterhielten. Sie selbst bewegte sich rasch und nach einem festen, eingeübten Rhythmus. Ohne Zweifel eine Lehrstunde im Unterschlupf
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