Die Tore nach Thulien, Buch I: Dunkle Gassen: Wilderland (German Edition)
der Ermittlungen, und dennoch wurde Tristan sofort damit beauftragt, Männer auf die Gassen Leuenburgs zu schicken. Er hatte sich in Taris getäuscht. Ihm lag wirklich daran, dass dem Mord nachgegangen wurde und bis jetzt scheute er noch keine Mühen und Kosten. Trotzig und reumütig zugleich hatte Tristan den Männern entsprechende Befehle gegeben. Viel versprach er sich aber nicht davon. Mehr als zweitausend Menschen lebten in der alten Herzogstadt und das Gewimmel in den Gassen war um diese Tageszeit unüberschaubar. Außerdem lag die Stadt nahe der Grenze zum Herzogtum Buchingen, der anderen nördlichen Provinz des Königsreiches. Fremde kamen und gingen tagein tagaus durch die Tore, mochten es Händler, Handwerker oder Söldner sein. Die Stadt war voll und mit jedem Frühlingstag wurden es mehr. Tristan war mittlerweile vorsichtig geworden, was seine Annahmen zum Erfolg der Ermittlungen anging. Der Hauptmann war im Recht gewesen, als er ihn auf den Tatort und dessen Umgebung angesetzt hatte. Tristan wollte es ja nicht heraufbeschwören, doch konnte es gut sein, dass er auch diesmal mit dem Plan, die Gassen zu beobachten, Erfolg haben würde. Die Männer waren nun jedenfalls unterwegs, hatten ihre Instruktionen und Tristan endlich ein wenig Zeit, sich mit der Reise in den Norden zu befassen. Zunächst wollte er sich davon überzeugen, dass Cutrig seinen Anweisungen Folge geleistet und Wachen im Innenhof und vor der Vorratskammer postiert hatte. Für den morgendlichen Tatort nahm er sich dann etwas mehr Zeit. Das Chaos in der Kammer war beseitigt worden und alles, was sofort möglich war, auch schon ersetzt. Bis auf etwas Proviant und dem Saatgut lag alles wieder an seinem Platz und scheinbar war heute Morgen sogar eine Lieferung Obst eingegangen. Äpfel hielten sich bei richtiger Lagerung einige Wochen und würden ihnen in den wilden Landstrichen des Nordens eine willkommene Abwechslung sein. Erleichtert und zufrieden wollte Tristan die Vorratskammer wieder verlassen, als er unter einem kleinen, zusammengekehrten Haufen Saatgut etwas funkeln sah. Er bückte sich, strich die Samen vorsichtig zur Seite und griff nach einem kleinen Stück Metall auf dem Boden. Es war eine Kette, aus feinen, silbernen Metallringen gefertigt, an deren Ende ein Anhänger in Form eines schwarzen Skorpions hing. Die Augen der Figur waren rot glühend und der Stachel, von dem ein feiner Faden troff, zum Kampf erhoben. Tristan runzelte die Stirn. Ungläubig riss er die Augen auf und sofort kam ihm wieder der Tote in der Leichenkammer und dessen Tätowierung auf der rechten Hand in den Sinn. Im nächsten Moment hastete er los.
Ein Blick zurück
D er Schlaf der Schatten war kein gewöhnlicher Schlaf. Vielmehr ein Dämmerzustand zwischen der einen und der anderen Welt. Ein Teil des Körpers suchte dabei stets die Ruhe und Gnade der Träume, der andere hingegen immer die rationelle Wirklichkeit des Verstandes. Die Kunst bestand darin, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Strömungen herzustellen und zu erhalten. Gelang dies nicht, so fiel der Verstand in tiefen Schlaf oder eben jener blieb versagt. Der Sinn dahinter bestand darin, weder das eine noch das andere Extrem voll zuzulassen. Der Schlaf der Schatten war eine Mischung aus verringerter Regeneration und verminderter Aufmerksamkeit. Man schlief nie völlig, doch war man auch nie richtig wach. Shachin beherrschte diese Technik und in Zeiten großer Not ließ sie sich auch darauf ein.
Es musste gegen Mittag sein, als sie den Schlaf der Schatten verließ. Genau konnte sie es in der Grotte hinter der Kapelle nicht sagen, doch die Art und Weise, wie die Schatten standen, legte die Vermutung nahe. Leise erhob sie sich von ihrem Lager. Nahezu übergangslos kreisten ihre Gedanken sofort wieder über den Meister im Kopf umher. Seine Kampftechniken, seine Bewegungen, all das hatte sie schon einmal gesehen, irgendwann, vor langer Zeit. Unter normalen Umständen, wenn die Zeit es zugelassen hätte, wäre sie schon noch dahinter gekommen, doch jetzt musste es schnell gehen. Das Wissen, wer ihr Gegner war, wie er dachte und handelte, war der Schlüssel für ihr Überleben. Aufgeben konnte er nicht und, da war sie sich sicher, wollte er auch nicht, nun da sein Kampfgefährte durch ihre Klinge umgekommen war.
Ein Pulver, Schwingen des Raben genannt, würde ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Ein Halluzinogen wie es früher auch die heidnischen Priester verwendet hatten, um in besonders
Weitere Kostenlose Bücher