Die Tore zu Anubis Reich
sehen. Und als er das Haar mit den Fingern zurückstrich, brach er in ein unterdrücktes Schluchzen aus, denn er hatte überhaupt kein rechtes Ohr.
»Na, egal«, sagte er sich in einem Tonfall, der vor hysterischer Spannung vibrierte. Er war so durchnäßt erschöpft, und die körperlichen Empfindungen waren ihm so unvertraut, daß er wirklich nicht zu sagen vermochte, ob die Nässe um seine Augen von Tränen her rührte. »Es ist mir gleich«, murmelte er. »Ich bin jedenfalls Chinnie.«
Er versuchte ein mutiges Lächeln aufzusetzen, was er rasch wieder aufgab, doch straffte er nichtsdestoweniger seine schmalen Schultern und ging entschlossen weiter zur Ratcliffe-Landstraße.
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12. KAPITEL
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Wo ist, o Tod, dein Sieg?
PAULUS, I. Korintherbrief
Der Krieg gegen Frankreich mit seiner Kontinentalsperre und den Schwarzen Märkten, sowie Gerüchte über eine bevorstehende Invasion Englands durch Napoleon brachten es mit sich, daß die finanzielle und merkantile Situation in der Threadneedle Street in ständiger Unruhe war. Unter diesen Verhältnissen konnte ein Kaufmann, der die rechte Ware zur rechten Zeit am rechten Ort hatte, innerhalb von Stunden ein Vermögen erwerben, während Reichtümer, die in anderen Zeiten erst nach Jahrzehnten vertan oder aufgezehrt werden konnten, jetzt an einem Börsenvormittag zu nichts zerrinnen konnten. Und obwohl nur jemand, der den Markt besonders scharf im Auge behielt, es bemerkt haben würde, gab es einen Spekulanten, der auf fast allen Gebieten des Handels aktiv war und dem es unweigerlich gelang, nach jeder Überraschung, jeder Katastrophe und jedem Umsturz auf der Seite der Gewinner zu stehen.
Jacob Christopher Dundee, wie J. Cochran Darrow sich jetzt nannte, hatte seine Investitionskarriere erst am zweiundzwanzigsten Oktober begonnen, doch innerhalb eines Monats hatte er sein Grundkapital durch eine Serie geschickter Verkäufe, Neuanlagen und möglicherweise außerhalb der Legalität liegender Spekulationsgeschäfte mit ausländischen Währungen enorm vermehrt. Und obgleich man über seine früheren Umstände so gut wie nichts wußte, waren der Charme und das Glück des stattlichen jungen Dundee so, daß die London Times am fünften Dezember seine Verlobung mit »Claire, Tochter des erfolgreichen Importeurs Joel Peabody« bekanntgeben konnte.
In seinem Büro über einem eingegangenen Enthaarungssalon in der Leadenhall Street wedelte Jacob Dundee ärgerlich eine Wolke Tabaksrauch fort, die aus der Pfeife seines älteren Gefährten kam, dann blinzelte er wieder auf die Meldung in der Times. »Na, wenigstens haben sie die Namen alle richtig geschrieben«, sagte er. »Allerdings wäre es mir lieber gewesen, man hätte auf die Bemerkung ›der scharfsinnige und erfolgreiche Neuling im Londoner Börsengeschäft verzichten können. In diesem Geschäft ist ein unauffälliges Profil wichtig: es gibt schon Leute, die mich beobachten und sich anhängen, wenn ich Abschlüsse tätige.«
Der ältere Mann blickte neugierig auf die Zeitung. »Ein hübsches Mädchen?«
»Ausreichend für meine Zwecke«, sagte Dundee ungeduldig und wedelte wieder Rauch weg.
»Ihre Zwecke? Und von welcher Art sind die, bitte?«
»Einen Sohn zu haben«, sagte der junge Mann leise. »Einen Sohn, dem ich ein Vermögen hinterlassen kann, und eine solide Erziehung, und gute Gesundheit. Meine medizinischen Berater sagen, daß Claire eine gesunde und intelligente junge Dame ist, wie man sie unter den heiratsfähigen Mädchen Englands heutzutage nicht besser finden kann.«
Der andere grinste. »Die meisten verlobten jungen Herren haben etwas weniger... ah... philosophische Erwartungen, erhoffen sich dafür mehr Spaß, wie? Und ich habe gehört, daß dieses Peabody-Stück nicht übel sein soll. Aber Sie haben den Parcours ohne Zweifel ein paar Male abgeritten und sich mit der Bahn vertraut gemacht?«
Dundee errötete. »Nun, ich... nein, ich bin in keiner Weise... verdammt, ich bin kein junger Mann, ich meine, das bin ich schon, aber all diese Dinge werden...« Er hustete. »Zum Henker, müssen Sie diesen Knaster rauchen? Wie, glauben Sie, sind Sie zu Ihrem Krebs gekommen? Wenn Sie Nikotin brauchen, geben Sie sich in meiner Gegenwart damit zufrieden, daß Sie Tabak kauen, okay?«
»Okay«, sagte der ältere Mann. »Okay, okay, okay.« Er hatte das Wort erst vor kurzem gelernt und noch Freude daran. »Aber was kümmert es Sie? Teil der Abmachung war ein neuer, wann immer Sie wollen.«
»Ich weiß.«
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