Die Tore zu Anubis Reich
gegangen. Hier - trinken Sie einen Schluck!« Er schraubte den Verschluß von einer Taschenflasche und reichte sie Doyle herüber.
Einen Augenblick später überlegte Doyle mit einem dankbaren Aufstoßen, daß Schnaps noch wirksamer sei als Schmerz, wenn es galt, einen mit der Wirklichkeit zu versöhnen. »Danke«, sagte er weniger laut als zuvor und gab die Flasche zurück.
Benner nickte, steckte sie ein, sprang auf die zerbrochene Plattform hinab und schritt hinaus auf die Wiese, wo vier von den sechs anderen Wächtern mit Spaten einen Graben aushoben, um anschließend mit behandschuhten Händen die metallverstärkte Zeltbahn glattzuziehen und zusammenzufalten; innerhalb einer so kurzen Zeit, wie es nur nach häufigen Übungen möglich war, hatten sie das zusammengelegte Gewebe begraben, die ausgestochenen Grassoden wieder ausgebreitet und festgetreten, und nahmen wieder ihre Plätze auf den Kutschen ein.
»Sie sollten die Plattform sehen«, bemerkte Benner, der von der Arbeit kaum außer Atem war. »Als wir sprangen, wurden gute drei Zoll vom Boden abgeschert. Wären wir nicht darauf gestanden, hätten die Pferde ihre Hufe verloren, und den Rädern würde jeweils ein Stück Radkranz fehlen.«
Die Kutscher schnalzten und klatschten mit den Zügeln auf die Pferderücken, und die Kutschen rumpelten schaukelnd von den zerbrochenen Planken auf das Gras. Langsam bewegten sie sich über die Wiese.
Minuten später hatten sie den Baumbestand am Flußufer erreicht und machten im Schutz einer Weidengruppe halt. Einer der Wächter sprang vom Kutschbock und lief voraus zur Landstraße. Geduckt spähte er nach rechts und links, dann machte er mit ausgestrecktem Arm eine abwärtswinkende Bewegung; Augenblicke später ratterte ein offener Wagen von links nach rechts vorüber, offenbar unterwegs zur Stadt. Doyle starrte ihm fasziniert nach; die Vorstellung, daß das fröhlich aussehende Paar, das er durch die Weidenzweige erspäht hatte, sehr wahrscheinlich ein Jahrhundert vor seiner Geburt tot sein würde, erfüllte ihn mit ehrfürchtigem Staunen.
Die Kutscher schnalzten, die Zügel klatschten und Zuggeschirre klirrten, als die Pferde auf den flachen Straßengraben zutrabten und die Kutschen mit einiger Mühe und wiederholtem Zurückrutschen darüber und auf die Straße zogen. Nun wurde es leichter für sie, und bald schaukelten die Kutschen in beachtlichem Tempo ostwärts nach London. Die Kutschenlaternen, die beim Durchfahren des Grabens geflackert und gerußt hatten, schwangen jetzt an ihren Haken gleichmäßig hin und her und warfen gelbe Glanzlichter auf die Pferderücken und die lackierten Flanken der Kutschen, wurden aber sonst vom Mondschein überstrahlt, der die Bäume in blasses Licht tauchte und die Straße wie eine Spur weißer Asche aus dem Dunkel der Wiesen und Felder hob.
Hast du einer Kerze Schein, dachte Doyle, kommst du über Stock und Stein.
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2. KAPITEL
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Heimlich bin ich davongetragen, schrecklich weit in unbekannte Ferne...
PERCY BYSSHE SHELLEY
Über den menschenerfüllten Gehsteigen leuchteten die Fenster der stattlichen, mit Baikonen und Stuckfassaden geschmückten Gebäude der Oxford Street an diesem jungen Samstagabend vom Lampenschein; elegant gekleidete Männer und Frauen waren allenthalben zu sehen, spazierten Arm in Arm, hoben sich wie Schattenrisse von den Schaufenstern und offenen Hauseingängen ab, bestiegen die Mietdroschken, die einander die Warteplätze am Straßenrand streitig machten, oder entstiegen ihnen. Die Luft vibrierte von den Rufen der Droschkenkutscher, dem Rasseln Hunderter eisenbereifter Räder auf dem Kopfsteinpflaster und den rhythmischen Rufen von Straßenverkäufern, die sich vom Wochenmarkt in der Tottenham Court Road nach Westen zu verirrt hatten. Von seinem erhöhten Platz aus konnte Doyle alles überblicken und die Gerüche von Pferden, Zigarrenrauch, heißen Würsten und Parfüm in der kühlen Nachtluft schnuppern.
Als sie nach rechts in die Broad Street bogen, zog Benner eine seiner Pistolen - ein vierläufiges Ding, das mit seinen vierfachen Steinschlössern und Zündpfannendeckeln spinnenhaft aussah - ganz aus dem Lederbeutel und stützte den Ellbogen auf das Wagendeck, so daß die zum Himmel gerichtete Waffe deutlich zu sehen war. Als er nach vorn spähte, sah Doyle, daß die anderen Wächter es ihm gleichgetan hatten.
»Wir fahren jetzt durch St. Giles, ein verrufenes Stadtviertel«, erläuterte Benner. »Da gibt es allerhand grobe Gesellen, aber
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