Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
in seinem Gesicht, und der Ausdruck des Zweifels blitzte in seiner Miene auf wie der Funke eines Feuersteins. Sie hielt bei diesem Anblick den Atem an, wartete auf die Frage, die unausweichlich kommen musste. Aber er stellte sie nicht, musste es auch nicht. Der Zweifel auf seinem Gesicht verwandelte sich im nächsten Moment in vielsagende Verzweiflung, als er feststellte, dass er sich offensichtlich nicht an diese Worte seines Großvaters erinnern konnte.
Sein Erinnerungsvermögen wurde besser. Das hatte er selbst gesagt, aber er war ein Mensch. Menschen logen. Er hatte wenig zu bieten, was seine Vergangenheit anging, bis auf kurze Fragmente einer Erinnerung, die tief in erstickender
Dunkelheit ihr Dasein fristete. Der Name eines Mädchens, das er einmal gekannt hatte, das Bild eines Baumes, der vom Blitz getroffen wurde, das Geräusch von krähenden Hähnen. Und selbst die Tage, von denen er sprach, schienen immer wieder aus seiner Erinnerung zu verschwinden, in der Dunkelheit zu versinken.
Während Kataria sein Ringen um die Erinnerungen beobachtete, stiegen eigene Bilder aus der Vergangenheit in ihr auf. Wenn sie ihn aus dem Augenwinkel betrachtete, glich sein silbernes Haar einem Pelz, waren seine Augen verblasst und umwölkt, ging sein Atem langsam und war übel riechend. In diesen kurzen Momenten war er nicht länger Lenk; er war ein Tier, und er war krank.
Wenn sie Lenk betrachtete, fiel es ihr schwer, ihn als Mann zu sehen. Mehr und mehr ähnelte er einem sterbenden Lebewesen, das mit seinen eigenen Erinnerungen kämpfte.
Und du weißt, was mit kranken Tieren geschieht.
Sie schloss die Augen, versuchte das schrille Wimmern zu vergessen, das unter dem Knirschen erbarmungsloser Stiefel schlagartig verstummte.
»Ja«, flüsterte Lenk plötzlich. »Das war er, stimmt’s?«
Sie öffnete die Augen. Er lächelte sie an, und es kümmerte sie nicht, ob sie es um ihrer selbst willen oder für ihn tat, sie erwiderte es einfach.
»Also«, meinte sie, »keine Abenteuer mehr?«
»Keine weiteren Nahtod-Erfahrungen«, knurrte er.
»Keine scharfen Metallstücke mehr, die auf deine lebenswichtigen Organe zielen.«
»Kein weiteres fieberndes Flehen zu irgendwelchen Göttern.«
»Nicht mehr länger darauf warten, im Schlaf aufgefressen zu werden.«
»Oder erstochen, zermalmt oder sonst wie malträtiert zu werden«, meinte er und nickte. »Keine Abenteuer mehr.«
»Und keine«, die Worte schlüpften unwillkürlich über ihre Lippen, »Gefährten mehr.«
Über ihre Gesichter schien ein düsteres, trübes Morgengrauen zu gleiten. Sie betrachteten einander mit tiefem Stirnrunzeln. Keiner von ihnen konnte Worte finden, die ihren Gefühlen hätten Ausdruck verleihen können. Sie sagten nichts, sondern wandten sich voneinander ab. Kataria kämpfte sowohl gegen ein Seufzen der Erleichterung an, welches das Wissen, das sie gerade zwischen sich geteilt hatten, ihr zu entlocken versuchte, als auch gegen den Drang, sich umzudrehen und ihn anzusehen.
Nein, sagte sie sich. Sieh nicht hin. Die Lösung ist ganz einfach... Jetzt musst du dir nicht einmal über irgendetwas anderes den Kopf zerbrechen. Niemand muss sterben. Du bist immer noch eine Shict. Und er ist immer noch ein Mensch. Du brauchst dich nur ganz einfach nicht umzudrehen und musst nur ...
»Also...«, murmelte sie.
... die Klappe halten. Verdammt.
»Wenn kein Abenteurer mehr, was dann?«
»Vielleicht kehre ich zu meinen Wurzeln zurück«, antwortete Lenk und rollte die Schultern, während er weiter an der Schilfwand lehnte. »Ich suche mir ein Stück Land, baue einen Hof, hacke Dreck, verkaufe Dreck. Ehrliche Arbeit.« »Allein?«
Verdammt!, schalt sie sich sofort. Frag ihn doch nicht so etwas! Warum machst du das immer wieder? Was ist bloß mit dir los?
Sie drehte sich zu ihm herum, konnte nichts dagegen tun, und sah, wie er sie nachdenklich betrachtete. Sie konnte nicht hören, was sie sich als Nächstes vorwarf. Und er kam nicht dazu zu sagen, was er hatte sagen wollen.
»Vetter!«
Erneut unterdrückte sie ein erleichtertes Seufzen, bevor sie beide aufsahen. Ein Blick aus gewaltigen gelben Augen über gewaltigen gelben Zähnen, die gewaltig glänzten und in einem gewaltigen grünen Kopf steckten, begegnete ihnen. Eine dreifingerige Hand hob sich und tippte an die Krempe des runden schwarzen Hutes, der auf Bagagames schuppigem Kopf saß. Der Echsenmann schlenderte auf sie zu.
»Geht’s gut, Gäste Tejis?« Er betrachtete sie mit einem Auge, während
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