Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
und begreife, dass ich
nur versucht habe, dich vor dir selbst und allem anderen zu behüten. Das ist alles, was ich dir anbieten kann. Glück wirst du niemals erlangen. Wahrheit und Leben sind alles, worauf du hoffen kannst. Bescheide dich damit und nimm es, solange du kannst.«
In der Dunkelheit tief unter ihm öffneten sich zwei große goldene Augen und starrten ihn hasserfüllt an.
»Bevor ich dir beides nehme.«
Die Statue von Zamanthras war sehr gepflegt. Ihre steinernen Wangen waren auf Hochglanz poliert. Die Wellen Ihres fließenden Haares waren liebevoll gemeißelt worden, jede einzelne Strähne aus Granit deutlich sichtbar herausgearbeitet. Ihre vollen Brüste, die von dem gemeißelten Gewand um Ihre Hüften nicht bedeckt wurden, waren perfekt abgerundet und glatt.
Der Rest des Tempels war verfallen und vernachlässigt. Es war ein Kinderspiel gewesen, sich unbemerkt hineinzuschleichen. Die Pfeiler waren wie die zerbröckelnden Mauern zerschmettert und dem Verfall preisgegeben. Die Wandteppiche, die noch an ihren Stangen hingen, waren verschlissen und vollkommen verstaubt. Darunter waren Vorräte gestapelt, in Kisten und Fässern. Offensichtlich war der ursprüngliche Zweck dieses Tempels schon vor langer Zeit aufgegeben worden, und er diente jetzt als Lagerraum und für andere praktische Belange. Er hätte es akzeptiert, sogar darüber gelächelt.
Wäre da nicht die Statue gewesen.
Zamanthras starrte den Mund mit steinernen Augen an, lächelte ihm mit steinernen Lippen zu. Sie strahlte Selbstbewusstsein aus, wirkte selbstgefällig in Ihrem eigenen Glanz. Sie beten mich immer noch an, sagte Sie ihm. Ganz gleich, wie taub Sie auch sein mochte, ganz gleich, wie lange schon
ihre Gebete unerhört blieben, die Menschen pflegten Ihre Statue immer noch. Die Menschen würden darauf warten, dass Sie ihre sterbenden Kinder rettete, dass Sie ihnen genug Wohlstand gab, um sich einen Laib Brot kaufen zu können. Was niemals geschehen würde. Sie würden sterben und Ihren Namen preisen, während Sie zusah, wie sie darbten.
»Nie wieder«, flüsterte er. »Keine verschwendeten Gebete mehr. Keine toten Kinder.« Er blickte auf die Phiole in seiner Hand, in der Mutters Milch schwappte. »Es endet hier. In Deinem Haus.«
Durch den Tempel und in seinem Schädel hallte ein schwacher Herzschlag, tief, dröhnend, zustimmend.
Das Becken des Tempels erstreckte sich zwischen dem Mund und der Göttin; es war ein riesiges, perfektes Rund mit dem Durchmesser von etwa zehn Männern. Das Wasser war friedlich und ruhig, nicht wie das silberne Kräuseln eines Sees. Dieses Wasser war dicht, schwer, wie Metall.
Das Tor eines Gefängnisses.
Als er sich über den Rand beugte und in das Wasser starrte, beschleunigte sich der Herzschlag, wurde lauter. Vater witterte seine Gegenwart, roch den Duft seiner Gefährtin, seiner Herrin, in der Hand des Mundes. Daga-Mer witterte selbst den schwächsten Duft der Abgründigen Mutter, ganz gleich, welches Gefängnis ihn hielt.
Unter den eisernen Wassern tobte Daga-Mer gegen seine nassen Fesseln.
Befreie ihn, meldete sich eine drängende Stimme in dem Mund, geboren aus Wut, gehärtet durch Predigten. Vater muss befreit werden, bevor die Abgründige Mutter sich erheben kann. Die Abgründige Mutter muss sich erheben, bevor die Welt sich ändern kann. Erinnere dich daran, warum Sie es tun muss.
Veränderung, sagte er sich. Veränderung, auf dass die Sterblichen nicht länger vor Furcht zittern. Veränderung, auf dass die Sterblichen nicht ihre Worte an taube Götter verschwenden. Veränderung, auf dass Kinder nicht sterben, während ihre Eltern vor Zweifel dahinsiechen.
Er hob den Blick. Die Statue von Zamanthras betrachtete ihn lächelnd und forderte ihn heraus, es doch zu tun.
Sie verhöhnte ihn.
Sie würden zittern, das wusste Sie. Veränderung war Furcht einflößend. Sie würden zu Ihr beten, wenn die Abgründige Mutter sich erhob, sagte Sie mit ihrer stummen steinernen Stimme. Veränderung zeugt stets das Bedürfnis nach dem Vertrauten. Sie würde Kinder sterben sehen, Eltern sterben sehen, alle in Finsternis, alle in Zweifel. Veränderung war gewalttätig.
Dann... ein Zweifel regte sich in ihm, erblühte in der Dunkelheit und wurde von der Verzweiflung gewässert. Welchen Sinn hat es dann?
Er hörte das Scharren von Füßen auf Steinboden. Sein Herzschlag beschleunigte sich; hatte man ihn gesehen? Er griff nach dem Messer, doch es war nicht da. Wo war es? Er hatte es woanders gelassen,
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