Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
in einem anderen Leben, in einem anderen Haus, als er gesehen hatte...
Er hielt inne, als ihm die Stille bewusst wurde. Niemand trat vor. Niemand stürzte sich auf ihn, um ihn aufzuhalten. Er sah sich um, erblickte einen Schatten auf den Mauern, geworfen von dem dämmrigen Licht, das durch das Loch in der Decke fiel.
»Ich weiß, dass du da bist«, sagte er. Der Schatten zitterte, schrumpfte hinter einem Pfeiler. »Du solltest nicht hier sein, das weißt du.«
Eine Mähne dichten schwarzen Haars schob sich hinter dem Pfeiler hervor. Das Mädchen starrte ihn mit dunklen Augen an, die Misstrauen und Vorsicht verrieten. Sie hatte keine Panik. Er hätte sie nicht anlächeln sollen, das war ihm klar. Sein Lächeln hätte nicht beabsichtigen sollen, sie zu beruhigen, sie herauszulocken. Die Veränderung kam. Viele würden sterben. Und sie würde sehr wahrscheinlich unter den Toten sein.
Und doch...
»Du auch nicht«, antwortete sie und wagte sich ein Stück
weiter heraus. »Mesri sagt, dass niemand hier drin sein sollte.«
»Niemand? Im Tempel der Stadt?«
»Heutzutage gibt es weniger Bedürfnis nach Gebeten.« Sie trat vorsichtig hinter dem Pfeiler hervor. »Mehr nach Medizin und Nahrung.«
Der Mund betrachtete die Kisten, die an den Wänden gestapelt waren. »Und man hat sie hier abgestellt, auf dass sie vergammeln?«
»Sei nicht albern«, spottete sie. »Wenn wir so etwas hätten, hätte Mesri sie längst verteilt.«
»Priester dienen den Göttern, nicht den Menschen.«
»Naja, wenn es welche hier drin gäbe, würde ich wohl kaum in dunkle, verlassene Häuser einbrechen, in denen seltsame, bleiche Fremde lauern«, antwortete sie scharf. »Das da«, sie deutete auf die Kisten, »haben die Reichen zurückgelassen, als sie Yonder verließen.«
Sein Blick glitt zu einem großen, mächtigen Gegenstand unter einem weißen Laken. »Und das da?«
Das Mädchen tapste auf nackten Füßen dorthin und zog das Laken herunter. Darunter befand sich eine funktionsfähige, unbenutzte Speerschleuder auf Rädern. Sie war sogar gespannt, und ein riesiger Speer war eingelegt. »Man hat sie gekauft, als die Angst vor Angriffen der Karnerianer und Sainiten sehr groß war.« Als würde ihr plötzlich einfallen, mit wem sie sprach, spannte sie sich an und legte eine Hand auf den Auslöser der Belagerungswaffe. »Ich weiß auch, wie man sie benutzt.«
Ihre Miene verriet kindlichen Trotz, den Drang, wegzulaufen, den sie nur unterdrückte, weil jemand ihr irgendwann einmal gesagt hatte, dass nur Feiglinge wegliefen. Das kam ihm irgendwie bekannt vor. Er unterdrückte das Bedürfnis zu lächeln. Und er unterließ es, sie darauf hinzuweisen, dass die Schleuder auf eine Stelle zielte, die sich mindestens drei Meter rechts neben ihm befand.
»Ich will dir nicht wehtun«, erklärte er.
»Und ich bin mir vollkommen sicher, dass du mir die Wahrheit sagst«, erwiderte sie schneidend. »Denn wie wir alle wissen, jagen ja nur vernünftige haarlose Missgeburten junge Mädchen mit gezückten Messern durch nächtliche Gassen und schreien dabei wie Verrückte.«
»Ich habe das Messer im Haus liegen lassen«, erklärte er. »In meinem Haus.«
»Das ist nicht fair!«, fuhr sie hoch. »Hausbesetzer können Häuser nicht für sich allein beanspruchen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz.«
»Ich bin kein Hausbesetzer. Ich habe dort einmal gelebt.«
»Lügner.«
»Wie bitte?«
»Wenn du dort gelebt hättest, wärst du ein Mann aus Tohana. Wärst du ein Mann aus Tohana, würdest du so aussehen wie ich.« Sie tippte sich auf die dunkelhäutige Stirn. »Ich bin noch nicht ganz davon überzeugt, dass du nicht doch irgendein rasierter Affe bist.«
»Ich könnte auch zu einer anderen Nation gehören«, meinte er.
»Wenn du das tätest, wärst du reich und würdest nicht in so einer kleinen Hütte leben.« Sie betrachtete ihn skeptisch. »Also... wer bist du?«
»Darauf gibt es keine gute Antwort.«
»Dann gib mir eine schlechte.«
Er blickte von ihr zum Becken. »Ich habe einmal mit meiner Familie hier gelebt. Jetzt sind sie alle tot.«
»Das ist keine schlechte Antwort«, erwiderte sie. »Aber auch keine besonders gute. Viele Menschen hier haben tote Familien. Das erklärt noch nicht, was du hier machst.«
Er wusste, dass er ihr nicht antworten sollte. Welchen Sinn hätte das schon? Wenn Vater befreit war, würden Menschen sterben. Das war unausweichlich. Aber wie hätte er ihr das sagen sollen? Es war auch nicht einmal notwendig, dass er sie
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