Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
beobachtete.
Er sah noch genauso aus, aber es war nicht mehr derselbe Mann, an den sich Bralston aus Cier’Djaal erinnerte.
Das war nicht der Mann, den Bralston neben ihr hatte stehen sehen, neben der Hundeherrin, das Kinn selbstbewusst erhoben und verächtlich auf den gemeinen Mann herabsehend. Das war nicht der Parasit, der sich bei gesellschaftlichen Ereignissen an ihren Ellbogen gehängt hatte, das Insekt, das hinter ihr kauerte, während sie den Kampf gegen die Schakale angeführt hatte. Das war nicht der verlogene Märtyrer, der mit ihr betrauert worden war, als er in der Nacht ihres Todes aus dem Palast verschwunden war. Sein Blut bedeckte die Flure, während sie in ihren Gemächern in ihrem eigenen Blut gelegen hatte.
Dieser Mann schien gebrochen zu sein, viel zu müde, als dass man ihm die Verantwortung für über eintausendvierhundert Tote geben konnte, die durch Feuer, Steine und Eisen bei den Aufständen ums Leben gekommen waren.
Aber es bestand keinerlei Zweifel daran. Bralston hatte ihn gesehen. Bralston hatte die Nachrichten von seinem Verschwinden gehört. Bralston wusste, dass dieser Mann tot sein sollte.
Aber er war nicht tot. Stattdessen stand er hier, während seine Herrin verblutet war. Dieser Mann stand hier und trug einen Handschuh mit einem versteckten Messer, die Lieblingswaffe der Schakale. Dieser Mann stand hier, flehte die
Luft um Verzeihung an, murmelte vertraute Worte, beschrieb bekannte Verbrechen.
Nichts konnte das erklären außer kalte, hässliche Logik, die nur einen Schluss zuließ... oder aber es handelte sich um ein Wunder.
Wunder wurden von Göttern bewirkt.
Götter existierten nicht.
Bralston verengte die Augen zu Schlitzen und hob seinen Finger, deutete damit aus seinem Versteck im Unterholz auf den Mann. Er murmelte ein Wort, und blaue elektrische Funken sprühten auf seinen Fingerspitzen. Ein weiteres Wort , dann wäre der Mann Asche; ein kurzer Tod, ein sauberer Tod. Es wäre viel schneller vorbei, als dieser Mann verdient hätte. Aber es wäre vorbei. Eintausendvierhundert Tote wären gesühnt.
Eintausendvierhundert und eine, verbesserte er sich, als er sich das Wort in Erinnerung rief.
Die Blätter im Unterholz auf der anderen Seite der Lichtung teilten sich, raschelten gerade laut genug, dass er das Wort nicht aussprach. Er drehte sich herum und sah die Priesterin. Sie trat aus dem dichten Laubwerk. Das Wort verschwand von seiner Zunge und aus seinem Kopf, während seine Miene sich verfinsterte.
Sie sah genauso aus wie... jemand anders.
Ihr Blick war leer, längst nicht so verzehrend wie der Blick der Frau, die er in der Akademie in Cier’Djaal gesehen hatte, der Frau, die verzweifelt versucht hatte, sich in sich selbst zu verkriechen. Aber dieselbe Leere lag in ihrem Blick. Er sah in ihren haselnussbraunen Augen erstorbene Fragen, erstorbene Träume, erstorbene Hoffnungen. Sie alle waren von einem vagen, düsteren Staunen erstickt worden.
»Welchen Sinn hat das?«
Er wusste, dass er diese Frage nicht beantworten konnte, so sehr es ihn auch drängte, es zu tun. Und auch der Mann konnte die Frage nicht beantworten, trotz der Art und Weise, wie die Priesterin ihn ansah, als sie sich ihm näherte.
Aber... sie näherte sich ihm mit einer kaum wahrnehmbaren Frage in ihren Augen.
Sie näherte sich dem Mann, den er fast eingeäschert hätte.
Direkt vor ihren Augen.
Er wusste, was passieren würde. Er wusste, dass die Leere in ihren Augen sie vollkommen verzehren würde, dass ihre Frage erlöschen und unbeantwortet bleiben würde. Ganz gleich, in wen sie ihr Vertrauen setzte, an wen sie glaubte, dieser Glauben war alles, was sie noch hatte.
Er ließ den Finger sinken und kam zu dem Schluss, dass eintausendvierhundertzwei Leben zu viel waren, um sie diesem Mann zu opfern.
Also würde Bralston warten. Er würde so lange warten, bis sie eine Sache gefunden hatte, an die sie glaubte. Es würde ihm ungeheuer schwerfallen, diesen Mann nicht zu töten, diesen Verräter, diesen Mörder, diesen Lügner.
Aber er war ein Bibliothekar.
Er konnte warten.
Denaos war ein Mann mit sehr vielen Facetten, wie Asper feststellte, als er zu ihr herumfuhr. Die Masken, die er getragen hatte, zerbrechliche Porzellanfassaden, die ihn schützten, fingen an verschiedenen Stellen an zu zerbröseln. Die Visage des Zynikers, des sarkastischen Mannes, des Gleichgültigen war aus seinem Gesicht verschwunden.
Da sie ihn ohne Maske überrumpelt hatte, versuchte er hastig, eine neue
Weitere Kostenlose Bücher