Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
hast seltsame Dinge halluziniert, Gedanken gehabt, die dir noch nie zuvor gekommen sind. Warum ist das sonderbar?
Weil Halluzinationen ein Produkt des Verstandes sind, hab ich recht?« Er nickte eifrig. »Du kannst also nichts halluzinieren, was du nicht kennst, richtig?« Er schüttelte ebenso eifrig den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Du kannst keine Affen halluzinieren, die philosophische Ideen vertreten, oder Bäume mit einem ihnen innewohnenden Bedürfnis nach Frieden, oder ...
Kataria.« Er blinzelte, und seine Augen schienen vor Anstrengung zu pulsieren. »Sie hat ihre Lederkleidung nicht getragen, als du sie gesehen hast. Du hast sie noch nie ohne ihre Lederkleidung gesehen. Stimmt das? Ja, hast du nicht. Das heißt, vielleicht einmal, aber wenn du an sie denkst, dann stellst du sie dir immer in Leder vor, richtig?« Er warf den Kopf in den Nacken. »Was sagt uns das alles? Dass
diese Halluzinationen nicht das Produkt einer Krankheit oder deines Verstandes sind? Entweder bist du tot, und das hier ist eine ziemlich und unendlich subtile und frustrierende Hölle, die sich drastisch von diesem ganzen Geschwafel von ›Seen aus Feuer und Sodomie mit einer Mistgabel‹ unterscheidet, oder aber, und das ist erheblich wahrscheinlicher...«
»Jemand anders steckt in deinem Kopf.«
Als ihm das klar wurde, verschlug es ihm den Atem. In diesem Augenblick schien die Welt sehr kalt zu sein.
Er starrte in den Bach. Von Eis verschleierte Augen erwiderten seinen Blick. Eine hauchdünne Eisschicht überzog das Wasser. Als er sich hinabbeugte, um sie genauer zu inspizieren, wurde sie härter, weißer und lauter.
Eis spricht nicht.
Doch dieses Eis tat es; die Stimmen waren zwischen jedem fauchenden Knistern zu hören, mit dem der Frost das Eis stärker und dichter werden ließ. Sie sprachen wispernd, als würden sie von einem Ort tief unter dem Eis zu ihm reden, sogar von tief unter der Erde. Sie sprachen in hasserfülltem, wütendem Flüstern, redeten von Verrat, von Misstrauen. Er spürte ihre Verachtung, ihre Wut, aber sie redeten mit heiseren Lauten in einer Sprache, von der er nur Bruchstücke verstand.
Er starrte eindringlich auf das Eis, versuchte sie zu verstehen. Verzweiflung schwang in ihnen mit, als wollten sie unbedingt, dass er sie hörte, und als würden sie ihn mit heiserer Wut verwünschen, wenn er nicht alle Willenskraft aufbot, damit ihm das gelang.
Aber von all den Ereignissen, die ihn an seinem Verstand zweifeln ließen, war das bei Weitem nicht das Schlimmste.
»Was?«, flüsterte er dem Eis zu. »Was hast du?«
»Überlebe«, erwiderte etwas flüsternd.
»Yo! Sa-klea!«
»Was?«, wiederholte Lenk.
»Ich habe kein Wort gesagt«, gab die Stimme zurück.
»Nicht du. Das Eis.« Er hob den Kopf und sah sich um. »Oder... irgendjemand anders.«
»Dasso?«
»Verstecken«, flüsterte Lenk.
»Guter Rat«, pflichtete die Stimme ihm bei.
Lenk war zu müde, um zu laufen, und humpelte hinter einen Felsbrocken in der Nähe. Unterwegs hob er sein Schwert vom Boden auf. Er hatte kaum seinen Bauch auf den Waldboden gepresst, als er sah, wie die Blätter der Büsche raschelten und sich bewegten.
Was auch immer aus dem Laubwerk trat, machte es mit einer beiläufigen Leichtigkeit, die einem solch dichten Unterholz Hohn zu sprechen schien. Seine Gesichtszüge waren in dem dämmrigen Licht nicht zu erkennen, und er nahm nur ihre ziemlich beeindruckende Größe und die schlaksige, leicht gebeugte Statur wahr.
Denaos? Doch er schob diesen Gedanken rasch beiseite; der Assassine würde niemals so leichtsinnig irgendwo auftauchen. Und jede weitere Ähnlichkeit der Kreatur mit Lenks Gefährten löste sich auf, als sie einen grünen Fuß mit langen Zehen auf die mondhelle Lichtung setzte.
Selbst als sie ganz ins Licht trat, konnte Lenk ihre Identität nicht feststellen. Sie stand auf zwei langen, stämmigen Beinen wie ein Mensch, aber das war auch schon die einzige Ähnlichkeit, die sie mit der Menschheit aufwies. Ihre Schuppen schienen wie winzige Smaragde zusammengenäht zu sein und spannten sich über straffen Muskeln. Die Kreatur war unbekleidet bis auf den Lendenschurz um ihre Hüften, unter dem ein langer, peitschender Schwanz herausragte.
Ihr großer Schädel war der eines Reptils und schwang vor und zurück; zwei harte gelbe Augen spähten suchend durch die Dunkelheit; ein schlaffer Bart aus schuppiger Haut baumelte unter ihrem Kinn. Sie hielt einen Speer, kaum mehr als ein angespitzter Stock, in den
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