Die Tore zur Unterwelt 3 - Verräterische Freunde: Roman (German Edition)
tausend verschiedene Farbtöne.
Und doch existierte auch hier Leben.
Oder zumindest so etwas wie Leben.
Sie hingen in der Luft, wie Laternen, wie Spiegel, oder vielleicht auch wie Sterne, die zu tief gefallen waren und vergessen hatten, wie sie wieder nachhause kommen sollten. Sie schwebten dort in bebenden, wogenden Trauben, so dick wie Sülze, so gewichtslos wie Federn. Ihre Tentakel hingen von klebrigen Bäuchen herunter und strichen über den Meeresboden, als liebkosten sie die eingefallenen Wangenknochen der Toten.
Es war ein wundervoller Anblick. Jedenfalls hätte Lenk das ganz sicher so empfunden, während er zwischen den nach ihm greifenden Tentakeln hindurchrannte – hätte er sich nicht gerade bemühen müssen, möglichst nicht zu stolpern und auf keinen Fall außer Atem zu geraten. Er musste sich einfach den Platz merken und hierher zurückkehren, sobald er nicht mehr um sein Leben rannte.
Irgendwie schienen die interessanten Dinge immer dann aufzutauchen, wenn irgendjemand gerade versuchte, ihn umzubringen.
Diesmal konnte er nicht einen einzigen Gedanken an das Leben um ihn herum verschwenden, weil er sich im Augenblick nur an einen einzigen Gedanken klammern konnte.
Laufen, laufen, laufen, laufen, laufen …
»Dreh dich um, du Narr!«, befahl die Stimme zischend und versuchte, ihm mit einem unsichtbaren, eisigen Griff die Kontrolle über seinen Körper zu entreißen. »Dreh dich um und kämpfe.«
Kein Schwert, kein Schwert, kein Schwert, könnte überall sein, überall, kann sie nicht sehen, kann sie nur hören, laufen, laufen, laufen …
»Es gibt keinen einzigen Ort, zu dem du laufen könntest.«
Vor Lenk erstreckte sich eine Welt aus Schwarz und Purpur bis in die Unendlichkeit: Große Schleier von violettem Kelp wogten auf einem Teppich aus Sand und Knochen. Hinter ihm erstreckte sich eine Welt aus Überresten, so weit er blicken konnte. Skelette von vielen unterschiedlichen Kreaturen waren mit beinahe künstlerischem Überfluss über die Spitzen der Korallen und auf jedem Stängel von Kelp verteilt.
Um ihn herum herrschte nur Dunkelheit, die ihm keine Fluchtmöglichkeit bot. Oder einen Ort, an dem sich irgendetwas hätte verstecken können. Er zum Beispiel.
Er lief auf ein Büschel von Kelp zu, schob sich zwischen die Stängel und versuchte, in dem violetten Pflanzenleben zu verschwinden.
»Das kann dich nicht retten«, flüsterte die Stimme. »Verstecken kann dich ebenso wenig retten wie weglaufen.«
»Töte sie. Töte alle.«
»Hasse sie. Sie sollen sterben.«
»Sie wollen uns wehtun. Das können wir nicht ertragen. Nicht mehr.«
»Es gibt nur einen einzigen Ausweg«, übertönte die eine Stimme alle anderen. Sie sprach lauter, kälter und klarer.
Die Stimmen kratzten an seinem Schädel, zogen tiefe Furchen in seine Trommelfelle. Es schien, als würden tausend Mücken in seinem Ohr summen, als zirpte eine Grille auf der Oberfläche seines Hirns. Sie grollten, zischten, wimmerten. Die eine Stimme befahl.
»Töte. Töte sie beide.«
»Halt den Mund! Sei still!« Er sprach kaum verständlich, während er die Worte zwischen seinen Zähnen hindurchpresste. »Sie wird dich hören.«
Er starrte in den Abgrund, von einem Schatten in den anderen, von der Dunkelheit in noch tiefere Dunkelheit. Das Sonnenlicht schien hier vergessen zu sein; nur ein winziger Strahl drang hindurch. Das violette Glühen des Kelp war kein ehrliches Licht. Es enthüllte nichts, sondern diente nur als weitere Quelle für Schatten, machte die Dunkelheit noch dunkler, verdichtete sie zu einer absoluten Schwärze, in welcher sie sich versteckte.
Ihn beobachtete.
Wartete.
Die Luft um ihn herum bewegte sich. Ein Schatten fiel über ihn. Er wirbelte herum, würgte an einem Schrei und sah … nichts. Der Blick seiner Augen zuckte zu den Kreaturen hinauf, die über seinem Kopf in einem schattigen Kreis schwebten.
Die Rochen glitten ruhig durch die Luft, so unberührt von der Dunkelheit wie von dem Entsetzen, das aus ihm herausbrach. Ihre Schwänze wogten wie der Kelp, durch den sie sich sacht wanden, ihre Flossen hoben und senkten sich wie Schwingen, die zu würdevoll waren, um zu flattern. Sie flogen. Artistisch. Hypnotisch. Es waren keine Geier, die über einer Grube des Todes residierten, sondern Tauben, viel zu elegant, um sich von den Leichen rühren zu lassen, die mit neidischen, leeren Augenhöhlen zu ihnen emporstarrten.
Es wäre nett gewesen, in diesem Moment davonfliegen zu können, sagte sich Lenk.
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