Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
war der Wohnraum so etwas wie die Präsentation ihrer Lebensumstände gewesen, während das Schlafzimmer der Raum war, der ihr allein gehörte. Dieses Zimmer lebte.
Erik starrte auf die blütenweißen Gardinen, die den Blick aufs Watt versperrten. Wie konnte man dieses herrliche Bild zuhängen? Dieses Bild, das alle denkbaren Farben annehmen konnte, vom unheimlichen Indigo bis zum durchsichtigen Blau, das sich in schimmerndes Metall, in hauchzarte Seidenstoffe und manchmal sogar in funkelnde Juwelen verwandelte. Und wie konnte man die Fenster verriegeln, wenn es draußen im Watt raunte, wisperte und knisterte und die Prile glucksten, sobald der Ebbstrom seewärts drängte? In diesem Zimmer musste man, wenn bei Ebbe auch der leiseste Wind verstummt war, sogar die Schlickkrebse hören können, wenn sie an die Oberfläche aufstiegen und ihre dünnen Wasserhäute platzten.
Erik schob die Gardinen beiseite und sah in den Nebel über dem Watt, in dem sich die Möwen verloren, wenn man ihnen lange genug nachgeblickt hatte. Wie immer, wenn er sich in den Räumen eines Menschen aufhielt, der sie mit Leben gefüllt hatte, ohne zu ahnen, dass er keine Zeit haben würde, dieses Leben am Ende mit sich zu nehmen, war er von einem vagen Unwohlsein erfüllt. Das musste er auch jetzt wieder bekämpfen, damit er nicht einfach den Tatort verließ, ohne ganz sicher zu sein, kein Indiz übersehen zu haben. Das Recht, sogar die Pflicht, hier eingedrungen zu sein, wogen für ihn nicht das Unrecht auf, dem Leben eines Menschen auf den Grund zu gehen, der keine Zeit mehr hatte, sein Intimstes von dort mitzunehmen.
Dann betrachtete er das Zimmer, als wäre er Teil des Wattenmeeres, das ins Fenster lugte, und nicht ein ungebetener Gast, der durch die Zimmertür eingedrungen war. Aber diese Perspektive eröffnete ihm nichts Zusätzliches, obwohl das Licht und die Schatten sich verändert hatten. Aber was hatte er erwartet? Nicht in diesem Zimmer war der Mord geschehen, sondern im Wohnzimmer.
Er drehte sich zurück, um die Gardinen wieder zu schließen – da sah er die Bewegung hinter den Heckenrosenwällen. Ein geduckter Rücken schob sich über die Grenze zwischen Wall und Watt, eine Strickmütze mit einem dicken Bommel blitzte auf.
»Fietje!« Erik schloss ärgerlich die Gardine, dann verließ er den Raum und lief die Treppe hinab. Mit wenigen Schritten durchquerte er die Diele, öffnete die Haustür, lief über den Kiesweg bis zur Straße. Zu spät! Fietje war nicht mehr zu sehen.
»Verdammter Spanner«, fluchte er leise vor sich hin und ging ins Haus zurück, wo er bereits von Sören gesucht wurde.
»Haben Sie die Adresse von Fietje Tiensch?«, fragte er barsch, als sei Sören schuld daran, dass der Wenningstedter Strandwärter ihm entwischt war.
Sören schüttelte den Kopf. »Aber es dürfte kein Problem sein, sie herauszufinden.«
»Dann kümmern Sie sich darum und nehmen Sie ihn in die Mangel. Sie können ihn auch in die Polizeistation nach Westerland bringen und wir verhören ihn dort gemeinsam.«
»Warum?«, fragte Sören verständnislos. »Ist er schon wieder da draußen herumgeschlichen? Halten Sie ihn für verdächtig?«
Erik schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber es würde mich nicht wundern, wenn er etwas gesehen hat, was uns weiterhelfen könnte. Etwas, was er uns freiwillig nicht erzählt. Der gibt natürlich nicht gern zu, dass er sich wieder mal auf verbotenem Terrain herumgedrückt hat.«
Sören nickte, wollte etwas antworten – aber in diesem Augenblick ging die Türglocke. Die beiden sahen sich erstaunt an. »Besuch?«, fragte Erik.
»Ich denke, die Kern hatte weder Freunde noch Bekannte«, gab Sören zurück.
Dann erhob er sich und ging zur Haustür. Erik hörte seinen überraschten Ausruf: »Sie? Was machen Sie denn hier?«
Mamma Carlotta hatte bald nach Sören, Erik und den Kindern das Haus verlassen. Ein letzter Blick in die unaufgeräumte Küche, ein flüchtiger Gedanke an die ungemachten Betten und die Berge ungewaschener und ungebügelter Wäsche, die sie im Keller gesehen hatte – dann zog sie die Haustür ins Schloss. Für all das war später noch Zeit. Lucia würde verzeihen, dass ihre Mutter heute für ein paar Stunden an sich und nicht an den vernachlässigten Haushalt der Tochter dachte. Auch die Löckchenfrisur, das Blümchenkleid und den Lippenstift hatte Lucia ihr verziehen, das wusste Mamma Carlotta genau. Schließlich hatte sich unmittelbar nach der Anschaffung des Lippenstiftes
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