Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
Erik die Stimme, die vor dem Haus erklang. Er ging zum Fenster und spähte hinaus. Mitten auf der Straße stand, eine riesige Brötchentüte im Arm, seine Schwiegermutter. Vor ihr die Nachbarin, die es sonst frühmorgens immer eilig hatte, weil sie ihren Haushalt erledigt haben musste, bevor ihre Arbeit im Büro der Kurverwaltung begann. Jetzt jedoch schien sie begierig Carlotta Capellas Lebensgeschichte zu lauschen, und Erik hoffte, dass ihr Job nicht in Gefahr geriet, wenn seine Schwiegermutter der eigenen Biografie auch noch die sämtlicher Angehöriger des Capella-Clans hinzufügte.
Die Nachbarin lächelte zu allem, was sie zu hören bekam, und bemühte sich sogar selbst um Sprechanteile in dieser Unterhaltung, die eindeutig über das übliche Maß hinausgingen. Obwohl sie schon seit zwei Jahren nebenan wohnte, hatte Erik noch kein Gespräch mit ihr geführt, das über drei oder vier Sätze hinausgegangen war. Sie stammte aus Husum, schien Plaudereien nicht zu lieben, und Erik hatte diese Einstellung gern akzeptiert. Nun jedoch schaffte sie es, dass Mamma Carlotta ihr sehr lange und sehr aufmerksam zuhörte. Und als sie fertig war, gab es lautes Lachen auf der Straße und ein langes Hin und Her von Abschiedsworten.
Mamma Carlotta war überaus zufrieden, als sie das Haus betrat. »Frau Kemmertöns hat mir alles genau erklärt«, verkündete sie. »Ich weiß jetzt, wo der beste Frisör der Insel ist und wo der Bus abfährt.«
»Frisör?« Erik rutschte die Brötchentüte aus den Fingern, die ihm Mamma Carlotta in die Hand gedrückt hatte. »Bus?«
»Außerdem sagt Frau Kemmertöns«, fuhr Mamma Carlotta fort, »dass du bereits eine heiße Spur verfolgst. Warum hast du mir das nicht erzählt, Enrico?«
»Glaubst du alles, was in der Zeitung steht?«
Mamma Carlotta dachte nicht lange nach. Ihrem Gesicht war abzulesen, dass sie bis zu dieser Stunde mit einer Zeitung umgegangen war wie mit der Bibel. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. Wahrscheinlich, weil es Wichtigeres für sie gab als Zeitungsmeldungen und Bibelweisheiten.
»Und dann hat mir Frau Kemmertöns noch erzählt«, fuhr sie fort, »dass im Abstellraum hinter der Garage Lucias Fahrrad steht. Und sie sagt, damit wäre ich in einer halben Stunde in Westerland.«
»Ja, aber …« Erik betrachtete ratlos seine Küche. In ihr hatte er Mamma Carlotta in Gedanken schalten und walten sehen, nachdem er sich damit abgefunden hatte, dass sie seiner Einladung tatsächlich folgen wollte. Und nun? Nun sprach sie von einem Frisör. Dabei wusste Erik genau, dass sie in Umbrien niemals zum Frisör gegangen war. Zumindest nicht, solange sie die Haare im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt hatte, der wahrlich nicht der Hand eines Fachmannes bedurfte. Und konnte man eine italienische Mamma, die ihr ganzes Leben in einem umbrischen Dorf verbracht hatte, guten Gewissens in einem Bus über die Insel fahren lassen?
»Lucias Fahrrad?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen. »Aber du kannst doch gar nicht Fahrrad fahren. In Umbrien fährt kein Mensch mit dem Rad. Glaubst du, man muss sich nur auf ein Fahrrad setzen und mit den Beinen strampeln? Du wirst nicht einmal bis zur Ecke der Westerlandstraße kommen.«
Mamma Carlotta warf zu Eriks größtem Bedauern den Schinken nicht in die Pfanne, sondern zurück in den Kühlschrank, der zur Entnahme der Eier noch offen stand und in Erik kühnste Erwartungen geweckt hatte. Und dann erzählte Mamma Carlotta ihm erst mal von ihrer Freundin Marina, die auf einem einsamen Weingut gelebt hatte. Erik wies mit vielen Gesten darauf hin, dass das Rührei mit Schinken auch parallel zu einer ausschweifenden Erzählung zuzubereiten sei. Aber vergeblich! Er musste sich erst die Geschichte über Carlottas Tante zu Ende anhören, die ein Fahrrad besaß, weil sie vor ihrer Ehe am Trasimeno-See gewohnt hatte, an dessen Ufern es sich bequem radeln ließ, und die, nachdem sie zu dick geworden war, um sich auf den Sattel zu schwingen, ihr Fahrrad der damals zwölfjährigen Carlotta vermachte, damit sie ihre Freundin Marina häufig besuchen konnte. »Obwohl der Weg steil bergauf führte!«
Erik gab die Hoffnung auf Rührei mit Schinken auf, während er sich anhörte, wie beschwerlich die Fahrt gewesen sei und wie gefährlich der Rückweg, wenn es bergab ging. Er griff resigniert zu seinem Marmeladebrötchen und nickte, als er zu hören bekam, Frau Kemmertöns habe bestätigt, dass man das Fahrradfahren niemals verlernte. Und er ärgerte sich, dass er
Weitere Kostenlose Bücher