Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
Andresen. Björns Sorge war nicht die Unordnung, sondern die Frage, ob sein Hosenschlitz geschlossen war. Immer wieder fuhren seine Hände an den Unterbauch, tasteten den Hosenreißverschluss ab, schienen aber niemals glauben zu können, dass tatsächlich alles in Ordnung war, sondern tasteten schon wenige Augenblicke später erneut darüber. Carlotta Capella fühlte sich nicht wohl in seiner Gegenwart. Welch eine Obszönität! Was mochte Ulla Andresen nur an ihm finden?
Während sie die marinierten Champignons auf einer Platte anrichtete, beschloss sie, dass man es mit der Schweigsamkeit auch übertreiben konnte. Selbst im Angesicht einer Tragödie durfte man ein wenig plaudern. »Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragte sie.
Björns Kopf wies nach rechts. »Nebenan. In der Pension Störtebeker.«
Mamma Carlotta war überrascht. »In einer Pension? Ja, wohnt denn Ihre Familie nicht auf Sylt?«
Björn schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Familie.«
»Keine Familie?« Mamma Carlotta fiel ein Champignon aus der Hand. Er rollte in eine Mauerritze, wo sie ihn so schnell wie möglich vergessen wollte. Die Vorstellung, ohne Familie zu sein, war so ungeheuerlich, dass es dabei auf einen einzelnen Champignon nicht ankam. Welch trauriges Schicksal! Was für eine Tragödie!
Gerade wollte sie Björn ihre Anteilnahme an seinem grässlichen Geschick versichern, da schepperte die Ladenglocke erneut, und Björn verschwand im Verkaufsraum. Mamma Carlotta sah nach, wer vor der Theke erschienen war. Diesen Mann kannte sie doch! Die rote Schirmmütze schien er ständig zu tragen, ohne diese Kopfbedeckung hätte sie ihn wahrscheinlich nicht wiedererkannt. Er warf ihr einen Blick zu, wandte sich jedoch schnell wieder ab. Trotzdem war Mamma Carlotta sicher, dass er sie gesehen und erkannt hatte.
Gekränkt drehte sie sich wieder um und beschäftigte sich weiter mit den Champignons. Sie hatte kein Verständnis für Menschen, die nicht freudig grüßten, wenn sie ein bekanntes Gesicht sahen. Da half es nichts, dass der Mann in diesem Augenblick sagte: »Die italienischen Vorspeisen sind wirklich vorzüglich. Gestern hatte ich Melanzane, heute …«
»Ja, man hat’s in der ganzen Pension gerochen«, warf Björn ein, und beide Männer lachten herzlich.
»Heute nehme ich die Tintenfischringe. Oder sind die auch in Knoblauchöl eingelegt?«
»Signora Rocchi«, rief Björn. »Sind die Tintenfischringe …?«
»… auch in Knoblauchöl eingelegt, sì!«, rief Mamma Carlotta zurück, ohne sich umzudrehen.
»Ich nehme sie trotzdem«, sagte der Mann und ergänzte: »Ich verspreche, dass ich das Fenster geschlossen halten werde, damit der Geruch nicht in Ihr Zimmer zieht.«
Wieder lachten beide, und Björn versicherte: »War ja nur Spaß.«
Als der Mann mit der roten Schirmmütze gegangen und Björn in die Küche zurückgekehrt war, fragte Mamma Carlotta: »Er wohnt auch nebenan in der Pension?«
Björn nickte. »Kennen Sie ihn?«
»Nein, aber ich kenne jemanden, der sicherlich gern wissen möchte, wo er wohnt. Ein alter Freund von ihm. Er wird sich freuen, wenn ich ihm sage, wo er ihn finden kann.« Sie warf einen Blick auf Björns nervöse Rechte, die den Hosenschlitz abtastete. »Wie heißt er eigentlich?«
»Keine Ahnung. Ich kenne ihn nur vom Sehen. Irgendeine arme Sau ohne Angehörige und ohne Job.« Er warf das Messer, das er gerade zur Hand genommen hatte, wieder weg, lehnte sich an die Tischkante und krümmte sich, als litte er plötzlich unter starken Schmerzen. »Wie lange dauert das denn noch?«, stöhnte er auf. »Warum ausgerechnet jetzt? Wo sich doch gerade alles zum Guten wenden wollte. Die Operation …« Er konnte nicht weitersprechen und ging mit großen Schritten in den kleinen Toilettenraum, der sich der Küche anschloss.
Mamma Carlotta war erschrocken, als sie ihn kurz darauf stöhnen hörte. Sie fragte sich, ob sie es wagen konnte, sich nach seinem Befinden zu erkundigen, oder ob in diesem Fall Diskretion angebracht war. Noch bevor sie sich entschieden hatte, rauschte das Wasser, und kurz darauf betrat Björn wieder die Küche. Diesmal war der Griff zu seinem Hosenschlitz durchaus sinnvoll. Er war nicht richtig geschlossen.
Es rollten nur wenige Wagen auf den Autozug. Zu dieser Jahreszeit gab es noch nicht viele Touristen auf der Insel, und die wenigen, die es schon nach Sylt zog, kamen meist erst gegen Abend an.
Erik blickte aus dem Fenster. Weite, Licht und Luft ließ er jetzt hinter sich, erst auf der
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