Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
Ladentür ins Schloss fallen und dann feste Schritte. Als Eriks Haare über der Mauer wippten, duckte sie sich unwillkürlich.
Ein Wagen bog in die Straße ein, hielt auf der anderen Seite der Mauer, Türen öffneten sich. »Hier ist ein Fischgeschäft!«, rief eine Frau. »Lasst uns nach Matjessalat fragen!«
Eilige Schritte, eine nörgelnde Kinderstimme, Türenschlagen, das Schimpfen eines Mannes, das Kichern eines Mädchens und wieder die Ladentür, die scheppernde Glocke. Carlotta atmete auf. Andresen würde beschäftigt sein. Und wenn sie nachher wieder in der Küche stand, würde er vermutlich vergessen haben, dass er sie jemals gesucht hatte.
Sie ging tiefer in den Garten hinein, blickte sich um und betrachtete das dunkle Backsteinhaus aus größerer Entfernung. Es vertrug den Abstand nicht. Je weiter man sich von ihm entfernte, desto ungepflegter sah es aus. Was für die Straßenfront aufgewendet worden war, hatte für die Rückseite nichts mehr übrig gelassen.
Ein schwaches Husten schreckte sie auf. In dem kleinen Blockhaus am Ende des Gartens war jemand! Ein Rascheln drang aus der Hütte, kaum wahrnehmbar, ein Scharren, Wispern, nur ganz schwach. Dann Stimmen! Leise nur, aber doch ganz nah. Zwei Menschen waren in dem kleinen Blockhaus! Und Mamma Carlotta war sicher, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelte. Noch einmal blickte sie zurück. Die schmale Tür, die von dem Zimmer, in dem Ulla die Tage mit ihrer Tochter verbrachte, in den Garten führte, war geschlossen. Dennoch war es möglich, dass Ulla Andresen hinausgeschlüpft war, als Saskia eingeschlafen war. Vielleicht, um ein wenig frische Luft zu schnappen, oder … oder um sich mit einem Mann in dem Blockhaus zu treffen.
Ihr Gewissen unternahm keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Es wusste aus Erfahrung, wann es sinnlos war, Carlotta Capella mit Ermahnungen zu kommen. Es würde sich später noch mal zu Wort melden, wenn es galt zu bereuen, was sie getan hatte. Jetzt jedoch schlich Mamma Carlotta von einem Baum zum nächsten, gut verdeckt durch dichtes Gesträuch, von dem es reichlich in diesem Garten gab.
Und dann stand sie in der Nähe eines Fensters. Es war staubig und voller Spinnweben, aber die Bewegungen dahinter waren trotzdem zu erkennen. Mamma Carlotta beugte sich vor, dann sah sie es genau: Ulla Andresen in den Armen eines Mannes! Sie barg ihren Kopf an seiner Brust, er streichelte ihr Haar mit inbrünstiger Verzweiflung. Dann hob Ulla ihr Gesicht, das voller Tränen war. Der Mann sagte etwas, und schließlich küsste er sie. Zärtlich, leidenschaftlich, doch es war kein Glück, das diese beiden verband. Die Trauer, die zwischen ihnen stand, war dichter als der Schmutz auf den Fensterscheiben. Ein Paar, das sich aneinander klammerte wie zwei, die wissen, dass sie sich verlieren werden.
Nun hielt das schlechte Gewissen es nicht mehr aus und sorgte für das beschämende Gefühl in der Herzgegend, das Mamma Carlotta zum sofortigen Rückzug veranlasste und zu dem innigen Wunsch, alles, was sie gesehen hatte, umgehend zu vergessen.
Sie huschte zurück, blieb eine Weile vor der großen Mülltonne stehen, atmete tief ein und aus – dann griff sie zu dem Abfalleimer, den sie dort abgestellt hatte, klapperte ausgiebig damit herum und ließ schließlich den Deckel der Mülltonne dröhnend herunterfallen.
Ein gellender Schrei zerriss die Luft.
»Nein!«
Mamma Carlotta ließ den Abfalleimer fallen und rannte los.
»Nein!«
Der Schrei begann hilflos zu flattern und sank dann zu Boden. Ohnmächtig.
Sören sah verärgert aus, als er das Zimmer betrat. »Die Husumer Kollegen haben nichts erreicht. Gar nichts!«
Erik fuhr sich durchs Haar. Er wirkte keinen Deut fröhlicher als sein Assistent. Immer wieder strich er sich mit einer sinnlosen Geste über den Kopf. Vor einer halben Stunde hatte er in den Spiegel gesehen und festgestellt, dass der Anteil seiner grauen Haare sich in den letzten Wochen verdoppelt haben musste. Seitdem fühlte er sich müde und ausgelaugt. Schon dreimal hatte er zu seiner Pfeife gegriffen, sie aber jedes Mal wieder weggelegt, weil nicht einmal sie ihn aufheitern konnte.
»Was soll das heißen?«, brummte er.
»Sie haben Björn Mende nicht angetroffen.« Sören ließ sich auf einen Stuhl fallen, kippte ihn auf die hinteren Beine, ließ ihn wieder auf die Vorderbeine fallen, kippte wieder …
Erik wurde nervös. Schon oft hatte er Sören prophezeit, eines Tages rücklings ins Kommissariat zu fallen und mit
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