Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
herausfinden«, sagte Robban. Karin nickte und las, was sie geschrieben hatte. Die Frage war, ob der Kopf zufällig im Garten von Frau Wilson platziert worden war oder ob die alte Dame Feinde hatte.
Åkerström, Trollhättan, Herbst 1958
Als er das vertraute Geräusch hörte, hockte er gerade auf dem Blecheimer. Rasch zog er sich die Hose hoch und deckte den halbvollen Eimer mit einer vergilbten Zeitung ab. Knarrend drehte sich der Schlüssel im Schloss. Dann
knirschten die rostigen Scharniere, und die Kellertür öffnete sich. Er blinzelte in das ungewohnte Licht und versuchte zu erkennen, wessen Silhouette da oben stand.
Mit gemischten Gefühlen sah er Elisabet und Stina die Treppe heruntersteigen. Elisabet trug einen Ranzen. Stina balancierte ein Tablett in den Händen. Essen. Er stürzte sich auf den kalten Fisch und die Kartoffeln. Die Schwestern sahen ihm zu. Gierig trank er die Milch.
Elisabet klappte ihre Schultasche auf und zog ein Lesebuch heraus.
»Ich gehe ja zur Schule«, sagte sie mit wichtiger Miene. »Da lernt man lesen und schreiben.«
»Und rechnen«, fügte Stina hinzu.
»Das wollte ich gerade sagen. Rechnen auch.« Elisabet warf ihm einen forschen Blick zu. »Hörst du mir zu?«
Er nickte.
»Dann sag das doch, du Dummkopf.«
»Ich höre zu.«
»Das hier zum Beispiel. Wir leben in Schweden. Schweden ist ein la…, lä…«
»Längliches Land. Da steht längliches«, sagte er.
»Das weiß ich selbst. Ich habe dir das Lesen schließlich beigebracht. Ein längliches Land.« Elisabet sah ihn verärgert an.
»Wenn du so schlau bist, kannst du ja vorlesen, was da steht.« Elisabet schlug eine Seite im hinteren Teil des Buches auf, wo sich die schwierigeren Texte befanden.
»Schwedens Klimazonen.« Er sprach es aus, ohne nachzudenken. Da Bücher seine einzige Gesellschaft waren, hatte er schnell lesen gelernt, nachdem Elisabet ihm das Alphabet erklärt hatte.
Elisabet starrte ihn an. Dann stand sie auf, riss ihm das Buch aus der Hand und schlug es ihm mit aller Kraft
gegen den Kopf. Der Schlag traf ihn mit voller Wucht am rechten Ohr. Er fiel zu Boden.
Karin hatte darauf verzichtet, sich von Robban und Folke im Auto mitnehmen zu lassen, und war stattdessen mit dem Bus zurück nach Marstrand gefahren. Sie zog die
Geschichte Marstrands
aus dem Rucksack. Weder zum Opferhain noch zum Opferstein gab es blumige Beschreibungen, nur Folgendes: »Dennoch gibt es einige sichtbare Überbleibsel, und diese legen ein beredtes Zeugnis von der Aktivität ab, die die ältesten Bewohner der Insel Marstrand entwickelt haben. Es wird vor allem auf das vornehmste
Denkmal
aus der Vorzeit von Marstrand hingewiesen, den großen Opferstein, der im Rahmen von heidnischen Opferritualen verwendet wurde.« Es wurde auch erwähnt, dass der Stein für Ortsfremde schwer zu finden war. Karin fand ihn ebenfalls alles andere als auffällig. »Nach Untersuchung der Opferstelle sind Historiker der Meinung, die in die flache Oberseite des Steins eingemeißelte Rinne habe zum Abfließen des Blutes bei Opferfesten gedient.«
Und sie funktioniert immer noch, dachte Karin und erinnerte sich an den schauerlichen Anblick. Manchmal machte sie sich Gedanken über ihre Berufswahl, aber ihr war nie etwas eingefallen, das ihr genauso sinnvoll erschien wie ihre jetzige Tätigkeit. Die Arbeit war selten so einfach oder cool, wie die vielen Fernsehserien ständig behaupteten. Oft musste man sich stundenlang durch Massen von Fakten wühlen und alle möglichen Aussagen überprüfen, bis man eine vage Ahnung hatte, wie es weitergehen könnte. Karins Interesse für Geschichte, ihre blühende Phantasie und ihr Einfühlungsvermögen kamen ihr entgegen. Folke mit seinem unerschütterlichen Glaubenan feste Regeln und Robban, der selten voreilige Schlüsse zog, standen für Solidität und gesunden Menschenverstand. Manchmal war es anstrengend, dass die drei Kollegen so unterschiedlich arbeiteten, aber letztendlich auch immer fruchtbar.
Plötzlich legte ihr jemand die Hand auf die Schulter und riss sie aus ihren Gedanken.
»Entschuldige, wenn ich störe, aber du bist doch Kriminalinspektorin Adler?«
Karin blickte auf und erkannte den Mann.
»Hallo, Bruno! Du störst überhaupt nicht, im Gegenteil. Setz dich, und nenn mich bitte Karin.«
Der etwa siebzigjährige Bruno Malmer war mit seinen dicken weißen Haaren und dem wettergegerbten Gesicht ein richtiges Original und in Marstrand allgemein bekannt. Er sah aus wie ein verrückter oder
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