Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
Hände.
»Wann bist du gestern ins Bett gegangen?«, fragte Karin Frau Wilson.
»Viertel nach zehn«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Na ja, als du das Licht ausgemacht hast, war es schon zwanzig nach«, fügte Hedvig Strandberg hinzu, die sich genau gegenüber von Frau Wilson in einem Sessel niedergelassen hatte. Sie machte keine Anstalten, sich wieder in die Küche zu begeben, so dass Robban sich resigniert auf einen dreibeinigen Hocker setzte, den er in einer Zimmerecke gefunden hatte.
»Wenn du meinst«, sagte Frau Wilson in erstaunlich strengem Ton zu ihrer Nachbarin. »Dann eben zwanzig nach, das mag sein. Ich habe den Wecker aufgezogen.«
»Hast du in der Nacht besondere Geräusche gehört?«, fragte Karin.
»Diese Menschen«, murmelte sie nachdenklich.
»Welche Menschen?«
»Sie waren verkleidet. Wie in alten Filmen.«
»Kannst du sie beschreiben? Wann hast du sie gesehen, und wie viele waren es?«
»Gegen sieben Uhr abends«, erwiderte Frau Wilson. »Sie gingen durch die Kyrkogatan, ziemlich viele … fünfzehn vielleicht. Ich glaube, sie waren mit der Fähre gekommen. Sie hatten viel Gepäck und andere Dinge zu schleppen. Eine alte Karre mit Holzrädern. Sie sahen aus, als kämen sie aus einer verschwundenen Zeit. Ich meine, Karren mit Holzrädern sieht man heutzutage ja nicht mehr. Ich dachte, sie würden einen Film drehen.« Frau Wilson blickte ihre Freundin an.
»Dreharbeiten?«, sagte Hedvig Strandberg. »Nein, davon habe ich nichts gehört. Allerdings hat in der Apotheke jemand was von … Wie heißt das noch mal?« Sie durchpflügte ihr Gedächtnis. »Larv«, sagte sie schließlich. »Ich meine, so hieß das.«
»Larv?« Robban machte ein fragendes Gesicht. »Vielleicht meinst du Larp, das ist eine Art Rollenspiel, glaube ich.« Karin zuckte die Achseln, um anzudeuten, dass sie das auch später herausfinden konnten.
»Sie halten sich im Sankt-Eriks-Park auf. Eigentlich wollten sie ja die Festung mieten, aber das durften sie nicht. Die Kommune scheint ansonsten gar nichts mehr abzulehnen, ihr müsst euch bloß mal diese schrecklichen Neubauten hier überall ansehen. Und trotzdem wird ständig behauptet, wir Einwohner von Marstrand seien schwierig.«
»Liegt der Sankt-Eriks-Park auf der Insel?«, fragte Robban. Karin konnte sich auch nicht an einen Park dieses Namens erinnern.
»Eigentlich ist es wohl gar kein Park«, sagte Frau Wilson. »Ich meine einen Park … Was ich als Park bezeichne, ist ja ein
garden
… Wie heißt das noch mal im Schwedischen …«
In belehrendem Ton und mit einem gelben Bleistift als Zeigestock in der Hand meldete sich Frau Wilsons Nachbarin zu Wort.
»Gustaf Edvard Widell, ein alter, an Gartenbau interessierter Rektor, ließ auf Marstrandsön und Koön zahlreiche Bäume pflanzen. Bohuslän hatte ja einst zu Dänemark gehört und musste den Leuchtturm von Skagen, der damals nur ein großes Feuer war, mit Brennholz versorgen. Das ist einer der Gründe, warum Bohuslän so kahl ist. Dass man mit Feuerholz anheizte, wenn man während des Heringsfangs Tran kochte, ist auch ein Grund. Damit machte man den bohuslänschen Wäldern endgültig den Garaus, wie der Historiker Holmberg im neunzehnten Jahrhundert sagte. Am Ende wurde es verboten, beim Trankochen Holz zu verwenden, man sollte stattdessen Torf nehmen. Es hat tatsächlich Wald gegeben, in Mooren und anderen Stellen hat man alte Baumstümpfe gefunden.«
Sie machte eine Kunstpause. »Nach dem Tod von Rektor Widell im Jahre 1882 wurde in Erinnerung an ihn der Sankt-Erik-Verein gegründet, der die Pflanzungen auf Marstrandsön pflegen sollte. Dieser Verein hat auch den Rundweg um die Insel angelegt, den ihr vielleicht schon gegangen seid?« Da weder Karin noch Robban antworteten, ließ sie die Frage im Raum stehen und fuhr fort. »Der Sankt-Eriks-Park liegt in der Talsenke, die man erreicht, wenn man auf Norden wandert.«
»Auf Norden?«, fragte Robban.
»In nördlicher Richtung, beim Societetshuset und dem Båtellet. Die Nordseite von Marstrandsön«, flocht Frau Wilson hastig ein.
Karin und Robban stellten noch einige Fragen, bedankten sich dann für die Mithilfe und kündigten an, dass ein Team von Kriminaltechnikern auftauchen würde, um zunächst den Garten zu untersuchen und schließlich den Kopf zu entfernen. Frau Wilson hatte ein entsetztes Gesicht gemacht, als Robban ihr erklärte, dass sie nicht in den Garten gehen durfte, bevor die kriminaltechnische Untersuchung abgeschlossen war, und
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