Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
die Nasen ab.«
»Echt? Wieso denn das?«
»Man dachte, die Seele säße in der Nase.«
Karin drehte sich um und sah Johan bohrend an.
»Was sagst du da? Die Seele in der Nase?«
»Ja.«
»Das heißt, man hat auch die Seele in seiner Gewalt, wenn man die Nase abschneidet?«
»Jedenfalls glaubte man das damals. Wir sprechen vom Mittelalter«, fügte er hinzu.
Seelen, dachte Karin. Er oder sie sammelt Seelen.
Gut Nygård, Vargön, Sommer 1962
Asko drückte sich die Nase an der Scheibe platt und betrachtete die vorbeisausenden Äcker. Das ganze Wochenende würde er mit Kristian und dessen Vater auf Gut Nygård verbringen. Nachdem ihm Kristian immer wieder von diesem Ort erzählt hatte, war in seinem Kopf ein Bild davon entstanden, und nun war er unheimlich gespannt auf das Gut, das in dem uralten Geschlecht Bagge von einer Generation zur nächsten vererbt wurde. Sie waren schon seit einer Stunde unterwegs.
»Bald sind wir da«, sagte der Chauffeur.
Kristian streckte den Zeigefinger aus. »Da vorne ist es.«
Ein Turm überragte die Baumspitzen. »Da?«, fragte Asko. »Im Schloss?«
Mit großen Augen staunte er über die Ulmenallee, die zum Wohnhaus führte. Falls man es überhaupt als Haus bezeichnen konnte. Es war größer als die Schule auf Marstrandsön und bestimmt drei Mal so groß wie der Pfarrhof. Fast so groß wie die Festung Carlsten, dachte Asko und sah am Turm des gelben Gebäudes hoch.
Kristians Vater trat hinaus auf die Treppe und kam ihnen entgegen. Sein Haar war gelockt und dunkel, und in der Hand hielt er eine Pfeife. Die andere Hand hatte er in die Jackentasche geschoben, als posiere er für ein altmodisches Foto. Ein schwarzer Labrador ließ sich schwanzwedelnd und wohlerzogen neben ihm nieder und machte das Bild komplett.
»Guten Tag, mein Sohn.« Er gab Kristian die Hand. Kristian wirkte plötzlich schüchtern.
»Guten Tag, Papa«, erwiderte er und machte einen Diener. Der Hund sprang auf und leckte ihm das Gesicht ab. Kristian kraulte ihn hinter dem Ohr. Anschließend wurde der Neuankömmling beschnuppert.
Nervös streckte Asko die Hand aus.
»Willkommen auf Nygård, Asko«, sagte Kristians Vater. »Ich heiße Torsten.«
»Guten Tag«, sagte Asko. Torsten nickte und ging durch die Flügeltür wieder ins Haus. Der Chauffeur trug ihr Gepäck hinein.
»Komm!« Kristian zupfte ihn am Ärmel. »Ich zeige dir meine besten Verstecke.« Kristian wetzte die Treppe hinauf und wäre beinahe mit der Haushälterin Elke zusammengestoßen.
»Guten Tag, junger Mann. Ich habe dich vermisst. Und du musst Asko sein. Willkommen. Habt ihr Hunger, oder haltet ihr es noch bis zum Mittagessen aus?«
»Wir halten es noch aus.« Kristian verschwand hinter einer Tür auf der linken Seite.
Asko blieb in der Eingangshalle stehen. Hier war es fast so wie in der Marstrander Kirche. Steinfußboden, große Fenster, und von der hohen Decke hingen Kronleuchter.
»Ui«, rief er aus. »Hier hallt es ja, wenn man spricht.«
»Ich weiß«, antwortete Elke. »Das habe ich auch gedacht, als ich zum ersten Mal hier war, aber das liegt nur daran, dass wir den Teppich zum Lüften hinausgehängt haben. Wenn er hier liegt, wird es besser. Ich bin in der Küche – da drüben. Falls du hungrig bist oder eine Frage hast, kannst du jederzeit zu mir kommen.« Sie zeigte auf die Tür, in die oben eine Milchglasscheibe eingesetzt war.
Asko nickte. Er war unfähig, etwas zu sagen.
»Asko?« Kristian kehrte mit fragendem Gesicht zurück. »Kommst du jetzt?«
»Einen Augenblick.« Elke hielt Kristian an der Schulter fest. »Es wird nicht mit dem Speiseaufzug gefahren.«
»Wir fangen mit meinem Zimmer an.« Kristian rannte die gusseiserne Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Asko folgte ihm und sah sich die ganze Zeit staunend um.
»Hier kann man sich ja verlaufen«, sagte er, als er Kristian eingeholt hatte.
»Das da drüben ist mein Zimmer.« Gänzlich unbeeindruckt von der Pracht, marschierte Kristian an zwei weiteren Salons mit schönen Kachelöfen und Kristalllüstern vorbei.
Mit seinen vielen Ecken und Winkeln war das Haus wie geschaffen für zwei abenteuerlustige Jungs. Nach dem Mittagessen gingen sie nach draußen. Erst jetzt bemerkte Asko, dass es noch mehr Gebäude gab. Neben dem Haupthaus lagen Stallungen, und auf der anderen Seite der riesigen Rasenfläche, am Fuße des Hunnebergs, standen ein weißes Holzhaus und daneben eine Orangerie.
»Das ist Gammelgård«, sagte Kristian. »Dort haben wir gewohnt, als ich
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