Die Tote im Badehaus
Arbeitsabend doch in Versuchung. Jeder hatte ein Souvenir aus dem Urlaub mitgebracht. Ich legte einen kleinen Bohnenkuchen aus Shiroyama dazu und überlegte, ob ich vor dem Unterricht noch Zeit für eine Tasse Tee und einen Happen zu essen hätte.
»Du strahlst wie ein Honigkuchenpferd. Hat der fliegende Schottländer noch einmal angerufen?« Richards zischendes Flüstern in meinem Ohr erschreckte mich zu Tode. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte das ganze Wochenende darauf gewartet, und jetzt reichte es mir. Richard machte den Mund auf, wahrscheinlich weil er mir sein Beileid aussprechen wollte, aber ich kam ihm zuvor.
»Du hast diesen Ohrring aus dem Mund genommen?«
»Das ist ein Zungenstecker«, korrigierte mich Richard. »Diese Kleiderordnung nervt. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.«
Es war ein kleines Wunder, daß es Richard gelang, sich vier Abende pro Woche in Hemd, Blazer und Hosen zu quetschen, wie es Nichiyu von ihm verlangte. Wenn es nach ihm ginge, würde er das schwarze T-Shirt, die Lederhose und die vielen Ohrringe tragen, die er immer auf seinen Touren nach Roppongi und Shinjuku trug. In der Arbeit wußte niemand etwas über seine sexuelle Orientierung. Deshalb jammerte er, es würde sein Image ruinieren, daß wir zusammen wohnten. Trotzdem, er brauchte mich genauso als enge Vertraute, wie er meinen Teil der Miete brauchte.
Richard war mein ein und alles. Ich war als Einzelkind aufgewachsen und empfand es als Betrug, daß ich nie jemanden gehabt hatte, mit dem ich im Auto singen oder heimliche Spiele spielen konnte. Karen und Simone, die Erfahrungen in solchen Dingen hatten, versicherten mir, Brüder seien gar nicht so lustig, aber trotzdem betrachtete ich meine Zeit mit Richard gerne als drei geschwisterliche Jahre.
»Hoffentlich denkst du daran, diesen Zungenstecker herauszunehmen, wenn du etwas Heißes trinkst«, mahnte ich Richard zum Spaß, als die elektronische Melodie aus dem Lautsprecher uns mitteilte, daß der offizielle Arbeitstag zu Ende war. Zu Unrecht. Denn die meisten salarymen verbrachten mindestens vier weitere unproduktive Stunden an ihrem Schreibtisch oder in Richards und meinen Englischkursen.
Wir mußten an diesem Abend nicht nur unterrichten, sondern wir mußten Gruppen unterrichten, die das Management von Nichiyu unbedingt nach Arbeitsbereichen und nicht nach sprachlichem Können einteilen wollte. Das bedeutete, daß die Kurse von herrischen Männern dominiert wurden, die keine zwei Sätze bilden konnten, während niedrigere Angestellte, die besser Englisch konnten, Angst hatten, den Mund aufzumachen. Als ich heute fragte: »Was war das Schönste in Ihrem Urlaub?« und es noch zweimal ganz langsam wiederholte, folgte nur Totenstille.
»Das Schönste war der Schlaf!« grölte Mr. Fukuda endlich, und die anderen Erwachsenen, die in Grüppchen um den U-förmigen Tisch saßen, lachten nervös.
»Der Schlaf! Mr. Fukuda, Sie haben doch sicher nicht die ganzen fünf Tage geschlafen!«
Doch, das hatte er. Genau wie Mr. Nigawa. Die einzige, die zugab, etwas gemacht zu haben, war Ms. Mori, die einen Kuchen für ihre Familie gebacken hatte.
»Ist gar niemand weggefahren?« fragte ich skeptisch und dachte an all die süßen Souvenirs.
»Sie, Sensei!« fragte jemand. »Wohin sind Sie gefahren? Mr. Randall sagt, Sie haben ihn einsam gelassen in Tokio.«
»Allein gelassen in Tokio. Nein, lassen Sie uns heute nicht über mich reden.« Ich wußte genau, weshalb meine Schüler Monologe von mir hören wollten – dann konnten sie langsam einschlummern. »Na los, jeder fragt seinen Nachbarn, was das Beste in seinem Urlaub war, und auch, was wir vermißt haben. Ich mache das mit Ms. Shinchi vor.« Ich winkte meiner besten Schülerin, aufzustehen. »Guten Tag, Ms. Shinchi!«
Ich streckte ihr die Hand entgegen. Die schüchterne Frau riß sie nach oben und unten, während sie sich leicht verbeugte.
»Guten Tag, Ms. Shimura.«
»Sind Sie von Ihrem Neujahrsurlaub zurückgekehrt?«
»Ja, ich bin von meinem Neujahrsurlaub zurückgekehrt«, echote sie.
»Was war das Schönste in Ihrem Urlaub?«
»Das Schönste in meinem Urlaub war, daß ich meine Mutter zu Hause gesehen habe.« Sie starrte auf ihre Füße.
»Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
»Ich hatte sie seit einem Jahr nicht gesehen.«
»Mmm. Gibt es einen Grund, weshalb Sie gerne wieder zur Arbeit gehen?« drängte ich sie.
»Ich kehre gerne wieder zur Arbeit zurück, weil ich Geld verdiene.«
»Na
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